Unter dem Deich
barfuß darüber. Es sieht aus, als wolle sie beschleunigen, um wieder abzuheben, zurück nach Kanada. Eine Sirene beginnt zu heulen. Ein Gepäckwagen wird in Gang gesetzt und nimmt die Verfolgung auf. Tante Maartje rennt immer weiter, mal mitten auf der Startbahn, dann wieder durchs Gras daneben, wobei sie Hasen aufschreckt, die nun vor ihr her hoppeln. Sie springt über niedrige Barrieren, über einen Wassergraben und läuft vor einem Flugzeug her, das gerade zur Startbahn rollt. Es ist ein erstaunliches Schauspiel, sie über den Flughafen laufen zu sehen, auf nackten Füßen und in einem zweifellos in Kanada selbst genähten Blümchenkleid. Nach einer halben Stunde wird sie eingefangen, mehr noch: überwältigt von einer Truppe von Mitgliedern des Bodenpersonals der KLM. Sie wird auf eine Trage geschnallt und ins St.-Joris-Krankenhaus in Delft gebracht, wo sie bis zur Rückreise bleiben wird. In der Zwischenzeit besucht Onkel Henk alle Verwandten. Er klagt über die viel zu kleinen Autos, in denen er mit uns fahren muss, er klagt über die geringe Größe der Niederlande, er klagt über die »Winzigkeit« der Bauernhöfe, und er klagt vor allem über die allgegenwärtigen Erdstrahlen, die er unter jedem Stuhl, auf dem er sich niederlässt, zu spüren scheint. Es gibt keinen Ort, an dem er stehen, sitzen oder liegen kann (von schlafen ganz zu schweigen), keine Toilette, auf der er seine Notdurft verrichten kann, keinen Weg und keine Straße, wo er gehen kann. Überall sorgen Erdstrahlen dafür, dass ihm der Schweiß ausbricht. Als er sich bei uns zu Hause vorsichtig auf einen Stuhl gesetzt hat, wird sein Gesicht augenblicklich feuerrot. Der Schweiß läuft ihm in Strömen von der Stirn, obwohl wir kühles Frühlingswetter haben und der Ofen nicht mehr brennt.
»Überall spürt er Strahlen, aber eine Leuchte ist er nicht«, sagt mein Vater.
Onkel Henk steht auf und nimmt einen anderen Stuhl. Es nützt nichts. Bereits nach zehn Minuten ist er wieder draußen. Notgedrungen hat er sich mit einem Blitzbesuch zufriedengeben müssen. Erdstrahlen machen jeden längeren Aufenthalt unmöglich. Sein ganzer Urlaub in den Niederlanden ist ein einziges Martyrium, eine pausenlos Flucht vor den Strahlen. Erleichtert atmen alle Verwandten auf, als er zusammen mit der in einem Krankenwagen nach Schiphol gebrachten und halb bewusstlos gespritzten Tante Maartje nach Ontario zurückfliegt. Dort stirbt Onkel Henk ein paar Jahre später an Krebs, den die, so seine letzten Worte, holländischen Erdstrahlen haben entstehen lassen.
Neulich, als ich in Maasland auf dem Doelpad unterwegs war, sah ich zu meiner großen Verwunderung Jantje Blommerd am Grabenrand sitzen. Er erkannte mich nicht, aber ich sah sofort, dass er es war. Ich habe nie jemand anders so still und verträumt vor sich hinstarren sehen.
»Auf Urlaub aus Australien hier?«, fragte ich ihn.
»Nein«, sagte er, »ich bin zurückgekommen.«
»Hast du dich drüben nicht eingewöhnen können?«
»Anfangs war ich noch zu jung, um mir bewusst zu machen, wie elend ich mich fühlte. Aber später, zu Weihnachten und Silvester, da wurde mir immer ganz anders. Meistens habe ich zehn Tage lang geheult. Da unten herrschte Hochsommer, und ich bin ganz blöd geworden vor Verlangen nach einem brennenden Kohleofen. Und wenn es da unten Winter war, dachte ich: ›Jetzt ist es in Holland Sommer‹, und dann – seltsam eigentlich – habe ich den ganzen Tag und abends, wenn ich im Bett lag, die Wassergräben vor mir gesehen, mit still stehendem Wasser und quakenden Fröschen und weißen Blümchen darauf. Ich habe mich selbst am Grabenrand sitzen und einen Schilfhalm herausziehen sehen, um daraus eine Flöte zu machen. Und dann bin ich ganz wahnsinnig geworden, komplett crazy vor Sehnsucht nach einem Wassergraben.«
»Gibt es in Australien keine stehenden Gewässer?«
»Davon hat da noch niemand gehört. Ach, Mann, und selbst wenn es still stehendes Wasser gegeben hätte, meinst du, dann würden Teichrosenblätter darauf wachsen? Oder Seerosen? Meinst du, der Wind würde die Wasseroberfläche so kräuseln, wie er das hier tut? Meinst du, es gäbe Schilf genug, um Bötchen daraus zu falten?«
Er deutete auf das andere Grabenufer.
»Schau«, sagte er, »wenn nachher die Sonne ein bisschen tiefer steht und wenn der Wind sich gelegt hat, dann spiegelt das Wasser das Sonnenlicht wider. Und dann kannst du manchmal Lichtbündel sehen, die nach einem Ort zu suchen scheinen, wo sie sich
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