Unter dem Deich
umklammerte das blaue Geländer der Breede Trappen.
Sehr bald erwies sich mein Kummer als voreilig. Neuseeland schied aus, weil es aus zwei Inseln bestand. Dann konnte man ebenso gut nach Goeree-Overflakkee auswandern. Australien kam nicht infrage, weil schon Pastor Dijkstra dorthin emigriert war. »Dieser Dijkstra«, sagte meine Vater, »hat immer eine Pistole in der Tasche. Wenn man ihn fragt: ›Wofür eigentlich?‹, sagt er: ›Wenn ich jemanden treffe, der fauler ist als ich, dann erschieße ich ihn auf der Stelle, denn ich will der faulste Mann der Welt sein.‹« Wenn auch nur Anspielungen auf eine Emigration nach Kanada gemacht wurden, hörte meine Mutter auf, Psalmen zu singen, oder sie sagte, dass man »auf der anderen Seite« keine Waschmaschinen leihen könne, und sowieso war mein Vater nach dem Mais von dieser Idee genesen.
Dennoch schwärmten die Demihomburger weiterhin durch das Sanierungsgebiet. Offenbar war ihnen bewusst, dass die meisten Menschen dort eher bereit wären zu emigrieren als anderswo. Es war, als wollten sie aus der großen Familie meines Vater (er hatte zwei Schwestern und sechs Brüder) und meiner Mutter (sie hatte ebenfalls zwei Schwestern und sechs Brüder) zumindest eine Familie zur Emigration überreden. Bei meinen Verwandten väterlicherseits gelang ihnen das nicht. »Auf der anderen Seite«, so viel konnte man den Antworten der Demihomburger entnehmen, fehlte es einfach an Damespielern, und die Nachfrage nach Holzschuhhändlern, Harmoniumverkäufern und Käsebauern war zu klein. Doch in die Familie meiner Mutter konnten sie ein Bresche schlagen. Ein Onkel, ein einfacher Anstreicher aus der Nauwe Koestraat – ein Querweg, der im Volksmund Schaapslop genannt wurde –, dachte immer ernsthafter an die Emigration. Seine Schwager, die ihn hassten, ermutigten ihn. Auch seine Brüder hätten ihn, der immer mit der Grundfarbe und dem Lack mogelte, gern abreisen sehen. Und seine Frau, Maartje, nun ja, die »tickte nicht ganz sauber«. Jedenfalls kam irgendwann der große Tag, an dem Onkel Henk und Tante Maartje mit dem Dampfer »De Waterman« aus Rotterdam abfuhren, um in Kanada ein neues Leben zu beginnen.
Am späten Nachmittag sollte »De Waterman« an unserer Stadt vorbeifahren. Bereits um zwei Uhr war die ganze Familie auf dem Schanshoofd angetreten, um ihnen zum Abschied zu winken. Es war ein schöner sonniger Tag mit vielen Nebeln auf dem Wasser. Rings um das Schanshoofd kreisten Hunderte kreischende Lachmöwen. Auf dem Fluss fuhren Binnenschiffe nach Rotterdam und Bergungsschiffe nach Hoek van Holland. Die Fähre brachte den dunkelroten Bus der Linie Rockanje/Rotterdam zur Stadt. War es Mittwoch- oder ein Samstagnachmittag? Oder hatte ich in der Schule frei bekommen, um zu winken? Oder fand die Abreise in den Schulferien statt? Ich weiß es nicht mehr, ich weiß nur noch, dass ich einen ganzen Nachmittag auf dem Schanshoofd gestanden und die »De Waterman« unendlich langsam habe näher kommen sehen, während die Sonne bereits unterging. Sowohl auf dem Schanshoofd als auch auf dem Hoofd war es, wie mein Vater sagte, »schwarz vor Menschen«. An Bord der »De Waterman« befanden sich viele Bewohner von unter dem Deich, auf der Flucht vor der Sanierung. Es wurde bereits gewunken und geweint, als das Schiff erst auf Höhe von Vlaardingen war. Je besser es, dem sanften Bogen des Flusses folgend, sichtbar wurde, umso größer wurde die Zahl der Schaulustigen. Von der Anlegestelle der Fähre fuhren kleine Motorboote los, auf denen dicht gedrängt die Menschen standen und winkten. All diese Boote fuhren in Richtung »De Waterman«. Auch vom Schanshoofd aus fuhren, von Dirkzwagers Steg im Hafen ablegend, permanent Boote, Ruderboote und sogar ein paar Segeljachten auf den Fluss hinaus. Zwei Schlepper von Smit & Co. tuckerten, mit Hunderten von winkenden Menschen auf dem Achterdeck und gellendem Schiffshorn, zum Hafen hinaus. Dirkzwagers Bötchen dampfte mit rund zwanzig Personen an Bord pfeilschnell zu dem Passagierschiff hinüber. Es jagte daran entlang, die zwanzig winkten, das Boot kehrte zurück. Eine gleich große zweite Gruppe durfte gegen Bezahlung hinüber zur »De Waterman«. Aus meiner sparsamen Familie war nur Tante Aad bereit, von Dirkzwagers Winkmöglichkeit Gebrauch zu machen. Wenn ich an den späten sonnigen Nachmittag zurückdenke, dann sehe ich in erster Linie Tante Aad, die, mit einem Kissenbezug winkend, in Richtung des Dampfers fährt. Ich höre sie ganz deutlich
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