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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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rufen: »Henk, Henk, Henk!« Auf der riesigen, nun schon in die rote Glut der untergehenden Sonne getauchten »De Waterman« winken Tausende über die Reling gebeugte und nicht voneinander zu unterscheidende Henke zurück.
    »Ich seh Maartje«, sagt mein Vater.
    »Wo denn?«, fragt meine Mutter.
    »Da, links, beim Rettungsboot.«
    »Aber nein, das ist unmöglich Maartje, sie trägt nie Blau.«
    Im Hafen tuten alle verfügbaren Schiffshörner einen Abschiedsgruß. Die Turmglocke der Grote Kerk läutet mit aller Macht. Was mich bitter stimmt, dort auf dem von der tief stehenden Sonne überfluteten, staubigen, warmen, goldfarbenen Schanshoofd, ist, dass es sich als unmöglich erweist, auch nur einen der Emigranten in der Ferne zu erkennen. Wo steht Onkel Henk? Wo winkt Tante Maartje? Es ist schon schwierig genug, gegen die Sonne zu schauen, die sich im Übrigen halb hinter den Masten, Schornsteinen und den oberen Decks der »De Waterman« versteckt. Außerdem sind es so unglaublich viele Emigranten, dass man unmöglich ein Gesicht nach dem anderen betrachten kann. Selbst die wenigen Besitzer eines Fernglases sind nicht in der Lage, ihre Verwandten ausfindig zu machen. Also suche ich mir einfach einen der kleinen Punkte aus und sage mir: »Das ist Onkel Henk« und winke ihm zu. Während ich winke, trifft mich ein hin und her geschwenktes Geschirrtuch. Danach gebe ich das Winken auf. Auch auf der Insel Rozenburg wedelt eine tausendköpfige Menge mit Handtüchern, Kissenbezügen und Taschentüchern. Stehen Onkel Henk und Tante Maartje vielleicht auf der anderen Seite des Schiffs? Aber nein, Tante Aad kehrt von ihrem Ausflug mit Dirkzwagers Boot zurück und erklärt, sie habe »Henk noch gesehen, Maartje leider nicht«.
    Am Maasufer entlang folgen wir zu Fuß dem in Schritttempo fahrenden Schiff, bis wir an einen Stacheldrahtzaun kommen, der im rechten Winkel zum Fluss mitten auf dem Deich steht. Mein Großvater schluckt hörbar. Die rote Sonne berührt Rozenburg. Das Wasser im Fluss flammt auf.
    »Es ist frisch geworden«, sagt Tante Aad.
    »Ja, du könntest dir durchaus einen leichten Schnupfen auf Dirkzwagers Boot geholt haben«, sagt meine Großmutter.
    »Wie viel hat die Fahrt denn nun gekostet?«, will einer meiner Onkel wissen.
    »Zwei Gulden fünfzig«, antwortet sie.
    »Mannomann, was für ein Ausbeuter«, meint der Onkel.
    »Aber ich habe Henk noch einmal gesehen«, erwidert Tante Aad.
    »Wir auch, heute Morgen in Rotterdam«, sagt meine Großmutter.
    Dann kommt die Zeit, in der uns regelmäßig Briefe von Tante Maartje aus Ontario erreichen. Henk schreibt nie. Den Briefen sind oft winzige Fotos beigelegt, ein Foto von Onkel Henks »car« – und das zu einer Zeit, als in der ganzen Verwandtschaft noch keiner ein Auto besaß! –, ein Foto von einer riesigen Dreschmaschine, auf der ein Zwerg steht (ist das Onkel Henk?), ein Foto vom ersten Kind, ein Foto vom zweiten Kind, ein Foto vom dritten Kind, ein Foto vom eigentlich doch recht klein wirkenden Holzhaus. Erstaunlicher als die Fotos aber sind Tante Maartjes Briefe.
    »Die haben weder Hand noch Fuß«, sagt mein Vater, »sie wird mit der Zeit immer verrückter.« Er liest vor: »Wir leben hier doppelt. Jeden Sonntag Rosinenbrot, aber die ganze Woche über nirgends ein normales Weißbrot. Keine grauen Himmel, wohl aber viel Schnee. Manchmal Raben auf dem Dach, und die Kinder schreiend im Bett. Viele alte Träume, viele neue Bilder, viele schweigende Zungen, die Polente hier hat Hüte auf.«
    Wie verrückt sie dort drüben in Ontario geworden ist, zeigt sich erst so richtig, als sie und Henk nach zwanzig Jahren mit dem Flugzeug für einen längeren Urlaub nach Holland kommen. Unsere ganze Familie steht mit Kleintextilien auf Schiphol bereit, um ihnen zuzuwinken. Wir befinden uns noch in der Zeit, zu der man in Schiphol von einer Art Dachterrasse aus die Flugzeuge auf den Landebahnen ankommen sieht.
    Das Flugzeug aus Kanada hält an. Die Treppe wird herangefahren. Die Flugzeugtür öffnet sich. In der Türöffnung erblicken die bereits eifrig winkenden Verwandten keine Stewardess und keinen Purser, nein, da steht Tante Maartje. Sie sieht, selbst auf die Entfernung, ziemlich verwildert aus. Blitzschnell klettert sie die Treppe hinunter und rennt dann, gerade eben, dass sie keine Haken schlägt, über den Beton davon.
    »Sie hat keine Schuhe an«, ruft Tante Aad.
    »Und keine Strümpfe«, sagt meine Mutter.
    Tante Maartje hat nun die Startbahn erreicht und rennt

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