Unter dem Deich
noch sagen. Zu Paulus’ Zeiten, da sprach Gott manchmal noch direkt zu den Menschen. Heutzutage macht er das anders. Er hat sein Wort ertrinken lassen, um mir mitzuteilen – und es hat mich ein Jahr gekostet, das zu erkennen –, dass ich niemals von unter dem Deich nach über dem Deich hätte ziehen dürfen. Wenn ich einfach in der Sandelijnstraat wohnen geblieben wäre, dann wären meine Bibeln nicht ertrunken, verstehst du. Jemand aus dem Presbyterium erzählte mir im Geheimen, dass das Gebiet unter dem Deich wegsaniert werden soll, und hat mir geraten, die erste sich bietende Gelegenheit zu ergreifen und einen Laden über dem Deich zu kaufen. Da habe ich mein kleines Geschäft in der Sandelijnstraat verkauft. Ich habe dem Käufer nicht gesagt, dass es bereits Pläne gab, diese Straße als erste wegzusanieren. Und dafür hat Gott mich gestraft. Deshalb hat er all meine Bibeln ertrinken lassen.«
Er schwieg, schaute in den Himmel und rief dann: »Ja, Herr, ich werde wieder nach unten an den Deich ziehen, und wenn Du es unbedingt willst, sogar zurück in die Sandelijnstraat. Aber gib mir bitte Zeit, meine Frau davon zu überzeugen, dass es Dein Wille ist.«
Er sah mich wieder an und sagte: »Du bist noch ein Kind. Du kannst den Glauben noch auf kindliche Weise akzeptieren. Später wird das einmal anders. Wenn es dir schwerfällt, später, oder du zu zweifeln anfängst, dann fahr nach Den Briel.«
»Nach Den Briel?«, fragte ich erstaunt.
»Ja«, sagte er, »nach Den Briel. Jedes Mal, wenn ich in der Bibel lese und auf Widersprüchlichkeiten stoße – und es stehen einige drin, es wimmelt in der Bibel regelrecht davon –, dann nehme ich mein Rad und fahre mit der Fähre rüber nach Rozenburg. Ich radle quer über die Insel und nehme die komische Kettenfähre nach Den Briel. Und dort steige ich auf den Turm von St. Catherijne. Und wenn ich dann oben bin, und der Wind weht um mich her, und das weite Land mit der Brieler Maas liegt mir zu Füßen, und in der Ferne sehe ich Gottes Meer, dann … dann banne ich den Zweifel … dann banne ich den Zweifel.«
Jedes Mal, wenn er das Wort »banne« aussprach, ballte er kurz die Faust.
»Aber können Sie denn nicht auf unseren Turm …?«, fragte ich ihn.
»Hab ich probiert. Geht nicht. Hilft nicht. Nein, fahr nach Den Briel, klettere dort auf den Turm, und wenn du da stehst, bestimmt, ich weiß es aus Erfahrung, dann bannst du den Zweifel … dann bannst du den Zweifel.«
Er stieg auf sein Rad, fuhr los und sagte: »Dann bannst du den Zweifel.«
Ich schaute ihm nach, und als ich ihn schon nicht mehr hören konnte, da sah ich ihn immer noch kurz die Faust ballen.
Emigration
Viele empfanden die Lage wegen der ständig drohenden Sanierung als zu bedrückend. Sie flüchteten aus dem Sanierungsgebiet an das andere Ende der Welt. In der Schule blieb der ein oder andere Stuhl irgendwann leer. Als wir ins zweite Schuljahr gingen, emigrierte Joop Bravenboer aus dem Stronikaadje nach Neuseeland. In der dritten Klasse entschlossen sich der Vater und die Mutter von Jantje Blommerd zur Emigration aus der Sandelijnstraat. Nachdem der Entschluss gefasst war, sahen wir, wie er Tag für Tag mit tränennassen oder auch nur geröteten Augen in der dritten Bank beim Fenster Platz nahm. Er hatte nie viel gesagt, schwieg aber nach der Entscheidung so nachhaltig, dass es aussah, als wollte er das Niederländische, das er in seiner neuen Heimat Australien nicht brauchen würde, schon mal verlernen. In der vierten Klasse hieß es, Jan Admiraal aus der Nassaustraat werde auswandern. Es hing nur noch davon ab, ob sein Vater, der nicht in eines der anerkannten Emigrationsländer wie Kanada, Neuseeland oder Australien, sondern in die USA auswandern wollte, eine Arbeitserlaubnis oder wenigstens ein Visum bekam. Um Jan, für den Fall, dass er ging, schon mal vorzubereiten, erhielt er Englischstunden, und wir durften – es war schließlich immer gut, wenn man Englisch konnte – auch die Aussprache von »I have a Bible, you have a Bible, he has a Bible« üben. Von Neid erfüllt stellte ich mir vor, wie Jan in Amerika an Land gehen und den auf ihn losstürmenden Eingeborenen sagen würde – und nur darauf kam es im Leben schließlich an –, dass er eine Bibel besitze. Jans Vater, nicht mehr als ein einfacher Teppichknüpfer in den Vereinigten Seilfabriken, bekam die notwendigen Papiere, und so durfte Jan, inzwischen vorgedrungen zu dem schwierigen Satz »I have read the Bible«,
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