Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
Vom Netzwerk:
Bett gehen und trotzdem morgens früh wieder bei der Arbeit sein kann. Sie kommt nie mehr zurück.«
    Auf der Straße ging er immer demonstrativ drei Meter vor seiner zweiten Frau. Später sagte er dann: »Du hast es bestimmt gesehen. Rennt immer wie eine Henne hinter mir her. Mann, Mann, sie hängt mir derart zum Hals raus.«
    »Na, na«, hörte ich auf der Wip jemanden zu ihm sagen, »für ihr Alter sieht sie aber noch recht manierlich aus.«
    »Ach, ja?«, erwiderte Pleun. »Du solltest mal einen Schritt näher rangehen, wenn du sie irgendwo siehst. Mit jedem Meter wird sie fünf Jahre älter. Der Lack ist komplett ab. Was sag ich: Da war nie welcher drauf.«
    »Ich würde durchaus gern mal mit ihr ins Bett.«
    »Ins Bett? Mit ihr? Da kannst du besser mit einem Tischbein ins Bett gehen. Nein, dann lieber Jannetje, mit ihr konnte ich Pferdchenreiten, sowohl im Sattel als auch auf dem Bock, du verstehst, was ich meine. Wenn ich mit ihr mal kuscheln will, denn – tja – selbst in ihrer Gesellschaft hat man manchmal Lust, dann sagt sie: ›Nicht so aufdringlich, Pleun.‹ Nein, was solche Sachen angeht, da hat sie nicht die blasseste Ahnung.«
    »Und warum hast du sie dann geheiratet?«
    »Aus Kummer um Jannetje. Ich wusste in meinem Schmerz ja nicht, was ich tat.«
    Als sie älter wurden, wuchs, wenn sie zusammen auf der Straße unterwegs waren, die Distanz zwischen ihnen noch weiter. Wenn er eine Straße überquert hatte, dann war sie in der Regel noch auf der anderen Seite. Er ging jedoch immer gebeugter und brauchte einen Spazierstock, von dem er, je krummer er wurde, jedes Mal eigenhändig ein Stück absägte. Immer schwarz gekleidet, ähnelte er mit der Zeit zunehmend einem Vogel. Sie konnte inzwischen, so schlecht zu Fuß, wie er war, auf der Straße leicht mit ihm Schritt halten. Und so sah man die beiden gehen, er hüpfend wie eine Amsel und vergeblich vor ihr auf der Flucht; sie stramm neben ihm her marschierend, bewegungslos, von ihren vor und zurück schlackernden Beinen abgesehen. Wohl aber wurden ihre Brillengläser immer dicker, und vor der Tür der Spirituosenhandlung Uleman hörte ich ihn sagen: »Sie kann allmählich nichts mehr sehen. Nicht mehr lange, dann können wir sie aufhängen, ohne ihr vorher die Augen zu verbinden.«
    Weil sie weniger sah, fiel es ihr dann wieder schwerer, mit ihm Schritt zu halten. Mit der Zeit wuchs die Entfernung abermals.
    »Sie fängt an, irre zu reden«, sagte er damals. »Wann wird sie denn endlich abgeholt? Sie kann überhaupt gar nichts mehr. Ihr ganzer Ellenbogendampf ist verbraucht. Ich muss alles alleine machen.«
    Wenn er das sagte, betrachtete er, den Kopf schräg in die Höhe gereckt, mit seinen gelbgrünen Augen jeden, der ihm zuhören wollte. Er verzog den Mund, als hätte er Schmerzen. Er spuckte aus, klopfte mit seinem Spazierstock wütend aufs Pflaster und sagte: »Ich wünschte, ich könnte sie aufbahren.«
    Über Jannetje sprach er nicht mehr. Über Geld, früher sein bevorzugtes Gesprächsthema, ebenso wenig. Nur seinen Lieblingssatz
    Geld lässt Wunder geschehen,
    wer keins hat, muss in die Röhre sehen
    konnte man ab und zu noch aus der Tiefe seiner Brust erklingen hören. Immer öfter quatschte er mich auf der Straße an und sagte: »Kannst du deinen Vater nicht fragen, ob er mich unter die Erde bringen will? Ach, wäre ich doch selber Totengräber!«
    »Mein Vater ist Grabmacher, kein Totengräber«, sagte ich.
    »Ist mir egal«, sagte er, »bestimmt hat er ein hübsches Grab übrig. Ich wünschte, ich wäre Bauer und hätte einen Stier. Dann könnte ich mich zum Krüppel stampfen lassen.«
    Mein Vater sagte immer: »Mann, was müssen die beiden alt werden: Wer klagt, stirbt hochbetagt.«
    Dabei hörte man die Frau nie klagen. Man sah sie nur umhergehen, er vorneweg, sie zwei Meter hinter ihm, er hüpfend, springend, hinkend auf drei Beinen, sie kerzengerade. Manchmal überquerte er ganz unerwartet die Straße, und dann folgte sie ihm blindlings. Oft hielt sie für einen Moment inne und bewegte den Kopf, als müsse sie lauschen, wohin sich das Geräusch seines Stockes entfernte. Oft genug habe ich ihn den Dijk überqueren sehen, und oft genug habe ich sie ihm hinterhergehen sehen. Aber ich habe nicht gesehen, wie er bei einem der vielen Spaziergänge, die sie zusammen machten, plötzlich die Wip überquerte und wie sie, ihm blindlings folgend, unter einen Lastwagen der Verenigde Touwfabrieken geriet. Noch Jahre später haben wir ihn oben auf

Weitere Kostenlose Bücher