Unter dem Deich
vollständig gerupft und ihn zu all den anderen gerupften Hühnern und Gänsen gelegt hatte, sah ich, dass er sich nun nicht mehr von einem der anderen zuvor von mir gerupften alten Suppenhühner unterschied. Mein Vater war so mit dem Schlachten der Kaninchen beschäftigt, dass er nichts hörte und nichts sah. Einem geheimnisvollen Impuls folgend, vertauschte ich – wobei ich das wütende Gesicht des Mädchens vor mir sah – hastig den Hahn mit einem Suppenhuhn. Ich wusste nicht, wieso ich das tat, aber es war, als wäre ich das dem Hahn und dem Mädchen schuldig.
Am Abend brachten wir die geschlachteten Tiere zu den jeweiligen Leuten. Bürgermeister Schwartz nahm persönlich sein altes Suppenhuhn in Empfang, bedankte sich überschwänglich bei meinem Vater und gab ihm zwei Gulden fünfzig sowie eine Schachtel Zigaretten. Der Hahn landete bei einem Kanalisationsarbeiter, der eine reiche Frau geheiratet hatte und im Stort wohnte. Ich hasste den Mann. Schuldbewusst ging ich an jenem Abend nach Hause. Immer noch verstand ich nicht, warum ich nicht wollte, dass der Bürgermeister, der ein überaus netter Mann war, den Hahn aufaß. Als wir zu Hause ankamen, trafen wir in unserer Wohnstube Bäcker Eysberg an. Er fragte mich, ob ich am nächsten Tag aushelfen wolle.
»Ja, Maart«, sagte er, »der Tag vor Weihnachten ist ein Misttag für uns, der arbeitsreichste Tag des Jahres.«
So kam es, dass ich am nächsten Morgen bereits um halb vier wieder auf den Beinen war. In der Bäckerei half ich, die Weißbrote aus den metallenen Formen zu holen. Danach belud ich den Karren, und um acht Uhr machte ich mich auf den Weg zur Lijnstraat. Die Menschen dort waren, wie ich wusste, schon aufgestanden und würden mir nicht in einem lächerlichen Morgenmantel oder Peignoir die Tür öffnen. Es war eisig kalt an jenem Tag, und in jedem zehnten Haus fragte ich, ob ich mich drinnen kurz aufwärmen dürfte. Bis neun Uhr abends ging ich von Tür zu Tür, wohl wissend, dass mir die schlimmste Prüfung noch bevorstand. Fast am Ende meiner Tour angekommen, erreichte ich das vornehme Haus des Bürgermeisters an der Govert van Wijnkade. Dort musste ich nicht einmal darum bitten, ob ich mich aufwärmen dürfte, sondern man lud mich ungefragt ins Haus. Der alte Bürgermeister schaute kurz um die Ecke der Küchentür.
»So spät noch unterwegs?«
Ich nickte.
»Bestimmt ist dir kalt«, sagte er. »Warte, ich hol dir schnell ein Glas Genever, dann wird dir von innen warm.«
Nach kurzer Zeit kam er mit einem Gläschen wieder, das ich langsam austrank. Dann fiel ich, auf einem Stuhl am Herd sitzend, in Schlaf. Ich träumte von dem Hahn und dem Mädchen. Der Hahn schleppte mich aus einem grünen Häuschen, das Beil im linken Flügel. Mit dem rechten Flügel drückte er mich auf den Boden. Er hob das funkelnde Beil, aber da sagte das Mädchen: »Halt, er muss zuerst seine Schuhe ausziehen.«
Ich wachte auf und sah, dass meine Schnürsenkel los waren. Schnell knotete ich sie zu.
Am Tag drauf aßen wir Kaninchenkopfsuppe. Meistens wollten die Auftraggeber meines Vaters den Kopf nicht haben, sodass wir zu einer Festtagssuppe kamen. Beim nachmittäglichen Gottesdienst wanderte mein Blick immer wieder zum Bürgermeister. Ob er sein zähes Suppenhuhn schon gekostet hatte, oder würde er, wie es bei reichen Leuten üblich war, erst am Abend warm essen? Es sah fast so aus, als würde er sich während der Predigt des Öfteren eine zähe Fleischfaser zwischen den Zähnen herauspulen. Während ich sein freundliches, altes, faltiges Gesicht betrachtete, dachte ich: »Er kann sich das doch nicht selbst ausgedacht haben. Aber wer hat es sich denn dann ausgedacht? Und wenn er es sich nicht ausgedacht hat, kann er als Chef der Gemeinde dann nicht sagen: ›Das machen wir nicht, ich möchte das nicht‹?« Aber das tat er nicht. Hatte ich deshalb die Hühnervögel vertauscht? Ich sah den prächtigen Hahn wieder vor mir, den Hahn aus dem Sanierungsviertel, ein Tier, auf das jemand, der dieses Viertel abreißen lassen wollte, unmöglich ein Anrecht haben konnte.
Die Propheten
Im Sanierungsgebiet wurde also zur Freude der Mägen über dem Deich viel Klein- und Federvieh gehalten. Auf den Fensterbänken döste allerdings nur hier und da eine Katze. Auf Dutzenden von Dachböden gurrten Tauben, doch in der ganzen Gegend war kein Hund zu sehen. In der Mareldwarsstraat jedoch wohnte eine Frau, die einen Schoßhund und etwa zwanzig Katzen hatte. Außerdem lief in der
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