Unter dem Deich
der Wip – dem Treffpunkt der Hochbetagten – mit Tränen in den Augen sagen hören: »Ach, ach, ist das zu fassen? Sie war so ein prima Frauchen, und sie ist vor meinen Augen gestorben. Ich musste unbedingt beim Zeemanhuis über die Straße. Ist das zu fassen? Ich wünschte, ich hätte einen Ableger von ihr.«
Lange bevor es so weit war, hatte die allgemeine Altersrente unter dem Deich, wo so viele bitterarme Alte wohnten, bereits Wunder bewirkt. Jetzt, da man es sich leisten konnte, nähten die alten Frauen hier und da einen Knopf an. Manchmal kauften sie sogar ein neues schwarzes Kleid. Eine von zehn Frauen schaffte sich sogar einen neuen, hübschen schwarzen Hut an! Alte Männer kauften neue Spazierstöcke. Manche Alten ließen ihre Kleider reinigen, sodass wir in der Zuiderkerk weniger oft den säuerlichen Geruch ungewaschenen Kammgarns riechen konnten. Von einem der Alten bekam ich, nachdem er auch »von Drees was kriegte«, jeden Sonntagmorgen beim Beginn der Predigt ein Pfefferminzbonbon. Das war auf einmal alles möglich. Wichtiger allerdings war, dass all die alten Leute dank der Rente plötzlich in die Lage versetzt wurden, den Wartungsrückstand ihrer jahrelang verwahrlosten Häuschen aufzuholen. Es wurde angestrichen, gezimmert, gesägt, gemauert. Neue Hoffnung keimte auf. Die Gemeindeverwaltung musste doch einsehen, dass es nicht nötig war, das Gebiet rings um die Vliete zu sanieren.
Die vertauschten Hühnervögel
Bei uns begann Weihnachten, wenn mein Vater Erlenzweige mit alter Silberfarbe anzumalen begann, die eigentlich für Grabbegrenzungsgitter bestimmt war. Vor allem die Zapfen sahen anschließend aus wie kleine Glocken aus Edelmetall. Mein Vater bemalte die Zweige und Zapfen nicht für uns, sondern für den Bürgermeister, den Direktor der Stadtwerke und den Chef der Ortspolizei. Und die versilberten Zweige wurden auch freudig angenommen. Meistens ergab sich aus der Lieferung, die ich oder mein Vater selbst übernahm, ein Schlachtauftrag. Vor Weihnachten annoncierten die Leute unter dem Deich ihre in den Innenhöfen gemästeten Gänse, Truthähne, Hühner und – vor allem – Kaninchen im lokalen Reklameblatt De Schakel . Wer seine Weihnachtstafel mit der Gans oder dem Truthahn eines anderen krönen wollte, der musste sich zu einer der Adressen im Kaninchenviertel begeben, um das Tier dort lebend – niemand schlachtet gern sein eigenes Vieh – abzuholen. Die meisten Menschen aber essen sehr gern Fleisch, und so kam es, dass viele Leute von über dem Deich alljährlich meinen Vater baten, das gekaufte Tier bei der jeweiligen Adresse abzuholen und es für sie zu schlachten. So mussten sie ihren unter dem Deich erworbenen Weihnachtsbraten nicht lebend sehen, sondern bekamen ihn küchenfertig in ihr Haus über dem Deich gebracht.
So fuhren wir also kurz vor Weihnachten in der stillen, kalten Abenddunkelheit mit dem Rad durch die gaserleuchteten Straßen, um all die widerspenstigen Belgischen Riesen, knurrenden Lothringer und freundlichen Holländer, die gackernden Hühner und die beherzt schnatternden Gänse aus ihren Ställen zu holen. Gut einen Monat nach dem Aufstand in Ungarn bot Klaas Onderwater seinen riesigen Hahn in der Zeitung zum Kauf an. Der sagenhafte Ruf dieses Tieres lockte Dutzende von Käufern an, unter denen sich auch Bürgermeister Schwartz befand, der dann schließlich der glückliche Besitzer wurde. Bald nach dem Kauf erreichte meinen Vater die Bitte, diesen Hahn für den Bürgermeister eigenhändig zu verarbeiten, wie man euphemistisch sagte.
Es fror ein wenig, als wir den Hahn in der Sandelijnstraat abholten. Nachdem wir geklingelt hatten, erschien ein traurig dreinblickender Onderwater, der uns in die Wohnstube führte. Im Halbdunkel bemerkte ich eine Frau, die an einer Nähmaschine saß und sich nicht dazu herabließ, von ihrer Flickarbeit aufzuschauen. Offenbar benutzte sie ihren Mund als Nadelkissen; Dutzende von Nadeln ragten zwischen den Lippen hervor. Beim Ofen saß ein Mädchen in einem Lehnstuhl, das älter war als ich; ich hatte sie wiederholt auf dem Marktplatz mit einem Kreisel spielen sehen. Sie grüßte nicht, sondern guckte, als wollte sie uns für ihre Weihnachtstafel schlachten. Mein Vater schaute sie ebenfalls an, und Onderwater sagte: »Ja, ja, meine älteste Tochter! Wie kann sie so wachsen ohne Wurzel!«
»Das kannst du ruhig laut sagen«, sagte mein Vater.
Das Mädchen guckte, als wollte sie auch ihren Vater beim Schlachten miteinbeziehen.
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