Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
Vom Netzwerk:
Zuiderpier. Es war eine Zeit, in welcher der Rotterdamer Hauptbahnhof noch Delftse Poort hieß und in der man, wenn man am Samstagnachmittag die Lijbaan entlangging, das Lied »Wir müssen uns nicht zieren, wenn wir auf der Lijnbaan flanieren« hören konnte. Es war die Zeit, in der die hoch aufgeschossenen Burschen »Halbstarke« hießen und die Polizei »Polente«. Es war die Zeit, in der die Sluiser, zunächst noch mit Dampflokomotiven, später dann mit stromlinienförmigen Kurzzügen, nach Rotterdam fuhren. Sie fuhren mit Dampf, um sich anlässlich der Eröffnung des neuen Hafens die Ausstellung »Rotterdam Ahoy« anzusehen, und sie fuhren elektrisch, um fünf Jahre später ebendort die Leistungsschau E ’55 zu besuchen. Es war die Zeit, in der die Ratenzahlung erfunden wurde und Tausende von Familien in große Schwierigkeiten gerieten. Und das nicht bloß, weil die Geschäfte überhöhte Preise verlangten. Es war die Zeit, in welcher der Riese von Rotterdam hin und wieder mit seinem Vater zum Strand radelte. Wenn er mit seinen zwei Metern achtunddreißig auf dem extra für ihn gebauten Fahrrad in Vlaardingen am Kolpabad vorbeifuhr, waren die Sluiser über sein Kommen bereits informiert. »Er ist jetzt auf dem Deich«, wussten die Schaulustigen, die sich bei De Hoop versammelt hatten. »Er hat jetzt die Zuidbuurt erreicht«, wurde kurze Zeit später gemeldet. »Er ist jetzt in der Kurve bei Schinkelshoek.« Woher wussten die Sluiser das? Gab es telefonischen Kontakt zwischen einem von uns und den Bewohnern der Bauernhöfe, an denen er vorbeifuhr? »Er ist jetzt beim Pumpwerk, auf halber Strecke in der Zuidbuurt.« Woher wusste man das bloß? »Er überquert die Blaue Brücke.« Die Spannung stieg. Würde er am Ende der Zuidbuurt abbiegen in Richtung Nieuwe Weg, oder würde er nach Maasland weiterfahren? »Er ist um die Kurve.« Da standen wir, bei der Mühle De Hoop, und wir schauten den in Sonnenlicht getauchten, noch leeren Nieuwe Weg entlang. Er musste bald zu sehen sein. Da? Nein, das waren zwei Radfahrer, die vor ihm herfuhren. Es war, als würde der Raps in der immens breiten Böschung zur Begrüßung stärker duften als sonst. Der Wind schüttelte den Klatschmohn hin und her. Die gelben Löwenmäulchen sahen fast orange aus. Da kam er, umringt, umdrängt von Dutzenden schwarzen Konfektionsrädern der Marke Fongers oder Benzo. Er sah aus wie ein Storch, der von Singvögeln begleitet wird. Turmhoch über alle hinausragend, fuhr er auf seinem Batavus, der mit zusätzlichen Stangen vergrößert worden war, und seine riesigen Füße, von denen wir alle wussten, dass sie Schuhgröße 62 hatten, bewegten einzig durch ihr Gewicht gemächlich die Pedale. Was mich die wenigen Male, die ich ihn gesehen habe, am meisten erstaunte, war, dass sein Kopf im Verhältnis zu seinem Körper so klein war. Doch trotz des kleinen Kopfes hatte man bei seinem Anblick das Gefühl, zusammenzuschrumpfen. Hatte man ihn wieder einmal gesehen, wirkten alle anderen Menschen noch Tage danach seltsam klein. Man hasste dann zudem die Klötze auf den Pedalen des eigenen Fahrrads, Klötze, die er wahrscheinlich niemals brauchte! Merkwürdig war auch, dass er immer auf der Hinfahrt zu sein schien. Er musste doch von Hoek van Holland – oder wo immer er hinfuhr, wenn er durch unsere Stadt kam – auch wieder zurückfahren. Nie kam er woanders her als aus Rotterdam. In dieser Hinsicht ähnelte er der »Nieuw Amsterdam« und der »Willem Ruys«. Die beiden Schiffe liefen auch immer nur aus und kamen nie zurück. Oder fuhren sie nachts unbemerkt über die Nieuwe Maas in Richtung Rotterdam? Sie liefen jedenfalls immer am Nachmittag nach Schulschluss aus. Wenn sie die Nieuwe Maas entlangkamen, konnte man sie von vielen Straßenecken, Brücken, Grachten, ja sogar von der Wip aus vorbeigleiten sehen, hoch über den sich duckenden Häusern. Die ganze Stadt schrumpfte zu einem winzigen Miniaturdorf zusammen. Selbst der Turm der Grote Kerk verwandelte sich plötzlich in einen senkrecht stehenden Bleistift. Der Himmel über Rozenburg wurde komplett ausgefüllt. Zwei riesige Schiffsschornsteine ergriffen den Himmel, tasteten in der Luft herum und gaben einem das Gefühl, dass es das Beste wäre, sich ein Versteck zu suchen. Aus den riesigen Schornsteinen kamen enttäuschend kleine Rauchwolken. Vor allem, wenn man die Schiffe aus der Ferne beobachtete, schienen sie mit einer atemberaubenden Geräuschlosigkeit vorüberzufahren. Und sie fuhren so langsam,

Weitere Kostenlose Bücher