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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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Ich schämte mich stellvertretend und war froh, als wir uns in den winzigen Hof hinter dem Haus der Onderwaters begaben, der vollständig von einem Hühnerstall ausgefüllt war. »Ich trau mich nicht, ihn zu fangen«, sagte Onderwater.
    »Ist auch nicht nötig«, meinte mein Vater, »ich schnapp ihn mir schnell.« Hinter dem Hühnerdraht ging das stolze Tier mit hoch aufgerichteten Federn hin und her. Mein Vater öffnete den Stall, der Hahn wich aus. Mein Vater kam nicht an ihn heran, und in den Stall kam er auch nicht hinein.
    »Fang du ihn mal schnell«, sagte mein Vater zu mir, »du passt so gerade eben durch die Tür.«
    Sprachlos starrte ich zu dem Tier hinüber, das mich aus dem hintersten Winkel seines Geheges mit einem, wie es schien, höhnisch blickenden Auge ansah.
    »Na los«, sagte mein Vater, »du brauchst keine Angst zu haben, er wird dir nichts tun, bestimmt nicht.«
    Schluckend und zitternd kroch ich durch die Tür. Ganz langsam ging ich, tief gebückt, auf den Hahn zu. Das Tier spreizte seine Flügel, wie ein Pastor, der ein Segensgebet sprechen will, und kam ruhig auf mich zu. Auch ich spreizte die Arme, und nach ein paar weiteren Schritten umarmten wir einander. Der Hahn pickte mich nicht, er gab keinen Laut von sich und fiel mir nur in die Arme. Und ich fiel in seine Flügel. Regungslos blieben der Hahn und ich, einander umarmend, mitten im Gehege stehen.
    »Nun komm schon her«, sagte mein Vater, aber ich konnte mich nicht bewegen, ich stand in der stillen, marmorkalten Winterluft einfach nur da und spürte die Wärme des Hahns, der mit dem Schnabel in meinen Haaren wühlte. Von mir unbeobachtet – es geschah hinter meinem Rücken –, zwängte mein Vater sich so weit es ging durch die Tür und packte das Tier. Heftig mit den Flügeln flatternd und ohrenbetäubend gackernd, wäre es ihm um ein Haar entwischt, doch kurze Zeit später steckte es doch in einem Jutesack. Wir gingen wieder durchs Wohnzimmer. Die Frau hockte tief vornübergebeugt hinter ihrer Nähmaschine, das Mädchen am Ofen wandte den Kopf ab. Ich hatte das Gefühl, vor allem ihr gegenüber nie wiedergutmachen zu können, dass ich den Hahn gefangen hatte.
    Mit dem Hahn fuhren wir zum Friedhof. Mein Vater bewahrte alle zum Schlachten bestimmten Tiere im Leichenhäuschen auf, das zu diesem Zweck mit reichlich Stroh ausgestreut worden war. Der Hahn bekam einen Platz zwischen den Kaninchen, und mein Vater sagte: »Der Stall in Bethlehem kann damals nicht voller gewesen sein.«
    Um das Fleisch eine Weile abhängen zu lassen, schlachtete mein Vater alle Tiere ein paar Tage vor Weihnachten. Manchmal waren wir bis zum späten Abend beschäftigt. Morgens schlug mein Vater zuerst allen Hühnern und Gänsen den Kopf ab, damit ich den ganzen Tag über etwas zu tun hatte. Ich musste nämlich das ganze Federvieh rupfen. Im Jahr des Hahns bewahrte er das riesige Tier bis ganz zum Schluss auf. Voller Bedauern packte mein Vater zu, und voller Bedauern schleppte er den Hahn zu einem abgesägten Baumstumpf, der zwischen dem Leichenhäuschen und dem Bahrhäuschen aufgestellt war. Mit einem gezielten Axthieb enthauptete er den Hahn. In diesem Moment riss sich das Tier los und stürmte blutend und mit gespreizten Flügeln in Richtung Rhododendronstrauch, den es beherzt umkurvte. Es machte kurz auf einem liegenden Grabstein der Familie Dirkzwager in der ersten Klasse Station und hinterließ ein wenig Blut. Dann kam es wieder auf uns zugerannt und legte sich auf den Boden neben seinen Kopf, dessen Augen immer noch träge blinzelten. Mit einer Geste der Schicksalsergebenheit legte der Hahn die Flügel an; es war, als faltete jemand einen Fächer zusammen.
    Auch ich bewahrte mir den Hahn bis zum Schluss auf. Schweren Herzens machte ich mich am späten Nachmittag daran, ihn zu rupfen. Es dämmerte bereits, und im Bahrhäuschen hatte meine Vater eine Petroleumlampe angezündet. Vorsichtig befreite ich das Tier von seinen Federn. Ich legte sie in der Reihenfolge hin, wie ich sie gerupft hatte, in der vagen Hoffnung, sie später zusammenkleben und das Ergebnis ausstopfen zu können. Und dann würde ich dem Mädchen am Ofen den Hahn wiederbringen.
    Während ich rupfte, erschlug mein Vater draußen die letzten Kaninchen. Er kam mit ihnen ins Bahrhäuschen und hängte sie mit dem Kopf nach unten an einer eigens dafür gespannten Leine auf. Munter hörte ich ihn vor sich hin murmeln, er wolle ihnen nun »den Mantel ausziehen«.
    Als ich den Hahn schließlich

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