Unter dem Deich
Wind widerstand. Er hing an einer fensterlosen Wand in ’t Peerd z’n Bek und blieb einfach dort hängen und präsentierte stolz seinen einfachen und für mich doch so unverständlichen Text (denn warum wurden die Wagemutigen, die Drees von der Wand gerissen hatten, als »Menschen voller Furcht« bezeichnet?).
Ich mochte Drees. Er hatte freundliche, lächelnde Augen und einen großen grauen Schnurrbart, in dem leicht eine Rotzblase verschwinden konnte, ohne dass jemand sie bemerkte. Ich konnte nicht verstehen, weshalb in der Kirche immer wieder vor Drees gewarnt wurde. Angesprochen wurden vor allem Kirchenbesucher, die bereits »einen ruhigen Lebensabend genossen«, wobei der Pastor sie der Reihe nach ansah, ermahnend und vorwurfsvoll. Mir wurde klar: Je älter jemand war, umso größer war die Chance, dass er Drees seine Stimme gab. Wer für ihn stimmte, wollte »was von Drees kriegen«, ein Phänomen, das ich mir überhaupt nicht erklären konnte, da ich nicht wusste, dass Drees als Minister die gesetzliche Altersrente eingeführt hatte.
Dann kam der Tag, an dem die alten Leute zum ersten Mal ihre Rente ausbezahlt bekommen sollten, ob sie nun Drees ihre Stimme gegeben hatten oder nicht. Eines Abends ging der städtische Ausrufer Leen van Buuren über den Deich. Oben am Afrol holte er seinen Gong hervor, schlug dagegen, und dann erklang seine Stimme unter dem sich bereits verdunkelnden Frühlingshimmel. »Meine Damen und Herren, liebe Kinder!« Er holte tief Luft. Seine weißen Holzschuhe, die bewegungslos auf der Straßendecke ruhten, sahen fast aus wie Strebewerk. »Die Gemeindeverwaltung hat in Anbetracht der Tatsache, dass unsere Fünfundsechzigjährigen nun von Drees verwöhnt werden sollen, beschlossen, die erste Rentenzahlung feierlich zu überreichen. Das wird am nächsten Samstag um zwei Uhr auf der Freitreppe des Rathauses geschehen. Sie alle sind herzlich eingeladen, daran teilzunehmen.«
Sehr bald schon hörten wir, dass die erste Rente nicht wirklich allen Alten persönlich überreicht werden sollte, sondern man wollte lediglich einen der Berechtigten per Los bestimmen, der dann auf der Freitreppe sein Geld bekommen sollte. Und dieser alte Mensch war, wie wir ein paar Tage später erfuhren, Pleun Onderwater.
Pleun Onderwater, der Vater von Klaas Onderwater, hatte seinen Lebensunterhalt damit verdient, dass er bei den Leuten pflanzliche Abfälle einsammelte und diese als Viehfutter verwendete. Jetzt hatte er sich zur Ruhe gesetzt und wohnte mit seiner zweiten Frau im Bloemhof Nummer 3. Man konnte ihn überall dort finden, wo sich ein paar Cent dazuverdienen ließen. Mal half er auf der Mole beim Beladen eines Küstenmotorschiffs, dann sah man ihn volle Mehlsäcke in das Fabrikgebäude von Trouw & Co. schleppen, dann wieder trug er für den Lebensmittelhändler und Bibelsammler Strijbos Reklame aus.
»Genau der Richtige, um als Erster Rente zu bekommen«, sagten die alten Männer oben auf der Wip zueinander.
»Ja, ja, der verdient mehr als ein junger Mann und kriegt jetzt auch noch Rente. Da wird doch Wasser zum Meer getragen!«
Doch Pleun Onderwater stand am Samstagnachmittag um zwei Uhr auf der Freitreppe des Rathauses, und der Bürgermeister übereichte ihm einen Umschlag mit Inhalt, und Pleun sagte: »Herr Bürgermeister, ich danke Ihnen sehr herzlich dafür, dass ich aus Ihren Händen die Wurzel allen Übels empfangen darf. Man sagt, Geld sei Dreck, nun, das will ich gern glauben, und darum sage ich auch oft: Gib mir noch ein bisschen von dem Schlamm, lass mich knietief in dem Modder zappeln, schütt meinen Hof voller Schlick, denn, Leute, lasst uns ehrlich sein: Geld lässt Wunder geschehen, wer keins hat, muss in die Röhre sehen.«
Nach seiner Rede sagten die Männer auf der Wip erstaunt: »Er hat überhaupt nicht von seiner ersten Frau gesprochen.«
Das war in der Tat erstaunlich, denn er sprach immer von seiner ersten Frau.
»Sie war doch so ein prima Frauchen. Immer genau und sauber. Nie keine Probleme mit ihr gehabt. Was sie auch angepackt hat, die konnte alles. Ich wär wirklich zufrieden, wenn ich ’nen Ableger von ihr hätte.«
Und dann fuhr er fort: »Aber die, die ich jetzt hab, die ist wie ein Knäuel Wolle voller Kletten. Steigt jeden Morgen mit griesgrämigem Gesicht aus dem Bett, während Jannetje immer mit beiden Beinen zugleich losgesprungen ist. Womit ich sagen will: nie mit dem verkehrten Bein. Ach, ach, mein Jannetje! Sie war wie ein Fahrrad, mit dem man spät zu
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