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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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dass es aussah, als lägen sie still und die Stadt führe vorbei. Sie bewegten sich nicht nach Westen, sondern wir wurden ostwärts geschoben. Das gab mir ein hohles, bedrohliches Gefühl. Trotzdem konnte man sich der Magie der unermesslich hohen Schornsteine und Masten nicht entziehen. Wo man auch war – man begann in Richtung Hafenmole zu gehen, wobei man unterwegs dafür sorgte, dass man die »Nieuw Amsterdam« oder die »Willem Ruys« nicht aus dem Auge verlor. Wenn man dann endlich die Hafenmole erreicht hatte, waren die Schiffe vorüber, und man sah sie mit großer Erleichterung (eine Erleichterung, die man ebenso gut Bedauern hätte nennen können) unendlich langsam in Richtung des Kühlhauses Poortershaven manövrieren. Abends im Bett hatte man dann das Gefühl, als hätte man, irgendwo im Körper, eine Narbe davongetragen.
    Wenn beide Schiffe vorüber waren, irrte ich, ein Steinchen vor mich hin tretend, das ich so lange wie möglich zu behalten versuchte, durch unser Viertel. Dann erst schien es ganz zu mir durchzudringen, was es bedeutete, dass man uns wegsanieren würde. Wenn man die »Nieuw Amsterdam« oder die »Willem Ruys« gesehen hatte, dann verstand man, dass die Sanierung unvermeidlich war. Wie konnten unsere kleinen Häuschen neben so vielen Bruttoregistertonnen weiterexistieren? Nichts schien berechtigter, als dass sie verschwinden würden. Trotzdem tat es unglaublich weh. Zum Trost las ich laut all die Verse, die ich auf den fensterlosen Mauern oder auf den Schaufenstern unter dem Deich sah. Es war auch die Zeit der zweizeiligen Reime. Ein guter Rat aus Meisters Mund, Wurst vom Metzger ist gesund. Von uns kommt’s frisch auf ihren Tisch. Unsere Mützen, unsere Hüte, alle sind sie erster Güte. Ich ging, wenn die »Nieuw Amsterdam« oder die »Willem Ruys« vorüber waren, zur Lijnbaan und hörte in einem Hauseingang eine Kinderstimme singen:
    Ringel Ringel Rose,
    Butter in der Dose,
    Schmalz im Kasten,
    morgen wollen wir fasten,
    übermorgen Lämmchen schlachten,
    das soll rufen »Mäh«.
    Dieses einfache Lied half gegen das hohle Gefühl, das vor allem die »Nieuw Amsterdam« hervorrief. Noch besser half es, laut Reime aufzusagen, und dabei spielte es keine Rolle, was für Reime:
    Kinder mit ’nem Willen
    krieg’n was auf die Brillen
    war gut und
    Messer, Schere, Feuer, Licht
    sind für kleine Kinder nicht
    half auch und
    Wer freit, bereut,
    doch wer freit mit Freud,
    ist nicht recht gescheit
    tröstete, ungeachtet des rätselhaften Textes, auch
    Pfau, Pfau, Pfau,
    du bist schön, ich bin schlau
    half, obwohl der nächste Pfau sich so weit entfernt befand, im Dorf Maasland nämlich, dass man ihn nicht einmal schreien hören konnte, wenn er Regen ankündigte.
    Sogar Reklametexte bannten das hohle Gefühl.
    Nicht ohne Grund
    ist Juno rund,
    hatte eine beruhigendere Wirkung als Reime, die angesichts der »Nieuw Amsterdam« plötzlich kraftlos wirkten, etwa
    Erbsen, Bohnen, Linsen
    bringen den Arsch zum Grinsen.
    Und tut’s im Bauch gut reißen,
    kann man auch tüchtig scheißen.
    Es war, als würden all diese Reime, so simpel sie auch waren, den durch die »Nieuw Amsterdam« oder die »Willem Ruys« auf Zwergenmaß reduzierten und ohnehin für unbewohnbar erklärten Häusern allmählich ihre ursprünglichen Proportionen zurückgeben. Alles wurde wieder übersichtlich, schien geordnet, vor allem, wenn so ein Reim rätselhaft war wie:
    Müssen ist Zwang,
    Heulen ist Kindergesang
    oder er anderen als mir selbst die Zukunft prophezeite:
    Mädchen, die flöten,
    kriegen Kerle mit Kröten.
    Aber es gab ein Gedicht, das tröstlicher war als alle anderen Reime. Es war ein Vers, der in Wahlkampfzeiten auf allen Mauern aufgetaucht war, an denen zunächst ein Porträt des sozialdemokratischen Politikers Willem Drees gehangen hatte. In der ganzen Stadt konnte man lesen:
    Ein Bild von Drees, hört, hört,
    das wurde hier zerstört
    von Menschen voller Furcht.
    Dem Bild ist’s einerlei,
    Hauptsache, ihr wählt Liste zwei.
    Lange nach den Wahlen hingen die fünf Zeilen immer noch überall. Man hatte sie auch auf Mauern geklebt, an denen vorher überhaupt kein Bild von Drees gehangen hatte. Ebenso hatte man sie über Bilder geklebt, die gar nicht zerstört worden waren. Mit der Zeit sah ich die Plakate der Reihe nach abblättern, verschwinden, vergilben, verbleichen. Aber es gab einen solchen, in diesem Fall tatsächlich über den noch halb sichtbaren Kopf von Drees geklebten, Vers, der allem Regen und

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