Unter dem Deich
›Für unbewohnbar erklärt.‹
Der Kreisel
1
Sie wurde in der Sandelijnstraat geboren. Als Kind floh sie aus ihrer Straße. Immer spielte sie auf dem Marktplein. Nie brachte sie Freundinnen mit nach Hause. Sie schämte sich nicht etwa wegen ihrer Herkunft, aber sie wollte auch nicht, dass die anderen Kinder dachten: »Ach, die Ärmste, sie kommt aus der Sandelijnstraat.« Natürlich dachten ihre Klassenkameraden es dennoch. Sie ließen es sich nicht anmerken, sie spielten ganz einfach nicht mit ihr. Dadurch war sie, außer im ersten Jahr, als sie mit ihrer Freundin Iemke Blommerd zur Schule ging, fast immer allein. Doch Iemke Blommerds Eltern wanderten aus, und die meisten anderen Kinder aus der Sandelijnstraat besuchten die öffentliche Prins-Bernhard-Schule. Die Kinder aus der Sandelijnstraat fanden sie »angeberisch«, und wenn sie durch den Lijndraaierssteeg zur Schule ging, traute sich Hugo Vastenau nicht, sie anzusprechen. Erst als sie in der fünften oder sechsten Klasse der Grundschule von Herrn Cordia Französischunterreicht erhielt und er ihre Straße Rue de Sandelin nannte, erschien es ihr weniger schlimm, in einem solchen Hinterhofviertel zu wohnen. Sie bewunderte Herrn Cordia sehr. Als er ganz beiläufig erwähnte, vor dem Schlafengehen müsse man sich die Zähne putzen, da bat sie zu Hause um eine Zahnbürste und Zahnpasta.
»Bist du jetzt vollkommen durchgedreht?«, sagte ihr Vater. »Die Zähne putzen? Das haben sich die Zahnärzte ausgedacht, die wollen nur, dass man so lange wie möglich mit dem eigenen Gebiss herumläuft, damit sie daran ein paar Gulden verdienen können! Man muss im Gegenteil dafür sorgen, dass der Krempel so schnell wie möglich aus dem Mund rauskommt! Je eher man ein künstliches Gebiss hat, umso besser, dann hat man mit den Zähnen keine Malesche mehr. Falsche Zähne können nicht wehtun! Ein Mädchen muss zusehen, noch vor der Hochzeit oben und unten falsche Zähne zu haben. Dann muss ihr Mann sich wenigstens keine Sorgen um das Geld für den Zahnarzt mehr machen.«
Weil sie ihre Klassenkameraden mied und es in ihrer Straße, nach der Abreise von Iemke, niemanden gab, der mit ihr etwas zu tun haben wollte, war sie dazu verurteilt, allein zu spielen. Doch auch dafür hatte sie eine Lösung gefunden. Sie spielte alle Tage mit dem Kreisel. Sie ging sogar abends nach dem Abendessen noch oft kurz auf den Markt, um zwischen den dürren Bäumen dort mit dem Kreisel zu spielen. Sie war eine Expertin! Sie wusste selbst nicht, dass niemand den Kreisel länger drehen ließ als sie. Wenn zufällig Kreiselsaison war, fiel es ihren Konkurrenten zwar auf, aber sie sagten ihr nichts, sie hielten es nicht für notwendig, sie darauf aufmerksam zu machen, dass sie besser mit dem Kreisel umgehen konnte als alle anderen. Nur wenn ihr Kreisel einmal, was nur ganz selten vorkam, sich nicht so lange drehte, höhnten die anderen: »Die blöde Kuh kann ihren Kreisel nicht mal eine Minute drehen lassen!«
Das kümmerte sie nicht. Wenn sie mit dem Kreisel spielte, vergaß sie sogar ihre Herkunft aus der Sandelijnstraat. Sie schaute nur auf die Farben ihres Kreisels und wunderte sich, dass der gelbe Punkt, den sie darauf angebracht hatte, zu einem schönen fließenden Kreis geworden war, der wunderbar mit den zum Kreis gewordenen grünen und roten Punkten harmonierte. Es kam ihr so vor, als könnte sie noch hundert Jahre in der Abenddämmerung mit dem Kreisel spielen und noch hundert Jahre die ineinander überfließenden Farben betrachten. Es schien ihr, als müsste sie den Kreisel mit ihrer Peitsche kaum berühren, als bliebe der Kreisel von allein in Bewegung und lange stabil. Sie hatte einen ganz sanften Schlag. Sie war auch sehr geschickt darin, den Kreisel hinzustellen. Die anderen platzierten ihn in einer Kuhle zwischen den Steinen und wickelten anschließend ihre Peitsche darum. Dann zogen sie ihn mit einem kräftigen Schwung auf die Steine, was öfter schiefging, als dass es gelang. Sie nahm ihren Kreisel einfach zwischen die Finger, hockte sich hin und brachte ihn mit einem Schwung ihrer Hände zum Drehen. Und anschließend schlug sie ihn ganz ruhig und mit langen Pausen, und ihr Kreisel drehte sich immer weiter und bewegte sich dabei meist kaum von der Stelle. Mühelos konnte sie ihren Kreisel auch von der Straße auf den Bürgersteig hüpfen lassen. Sie trieb ihn dann zum Bordstein hin und verpasste ihm einen Schlag. Der Kreisel machte einen Sprung und rotierte auf den Gehsteigplatten
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