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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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Bravenboer und die Geschwister Boezeman mit ihren Möhrenköpfen standen in Gruppen bereit, um sich auf jeden Spaziergänger ihres Alters zu stürzen, der woanders herkam. Selbst wenn man in der Hoekerstraat wohnte und zur Lijndwarsstraat wollte, musste man, während hinter einem bereits bedrohlich die Mopeds angetreten wurden, um sein Leben rennen. Aber ich wagte mich immer wieder bis in die Hoekerstraat und hielt nach den Flammen Ausschau, die Colenbranders Laden vernichten würden. Doch außer den Rabauken in der Ferne sah ich an warmen Septemberabenden nur Straßenbewohner, die auf Küchenstühlen friedlich vor ihrer Tür saßen. In den kleinen Schuppen hörte ich Pferde wiehern, und vor den Schuppen standen riesige dunkelhaarige Mädchen, die einen hungrig anstarrten, wenn man mit Angstschweiß auf dem Rücken um sein Leben rannte. Jeden Moment, so fürchtete man, könnten einem die Tussen, die ihre Nägel mit Mennige rot färbten, die Augen auskratzen. Aus Mangel an Geld für Make-up steckten die Mädels all ihre Energie, die sie auf ihr Äußeres verwandten, in ihre Haartracht. Turmhohe Frisuren, von innen mit Kaninchendraht gefüllt, erregten einen schon in einem Alter, in dem man sich sonst noch nicht für Mädchen interessierte. Im Frankreich der Rue de Sandelin wohnten die sozial Schwachen wie die Götter auf ihrem Olymp. Wenn die Mädchen heirateten und man sie fünf Jahre später wiedersah, waren ihre Do-it-yourself-Frisuren verschwunden; sie trugen Kittelschürzen und wirkten um dreißig Jahre gealtert.
    Ich war nicht derjenige, der den Brand entdeckte. Er begann auf dem Dachboden. Dort spielten Colenbranders Kinder kurz vor Weihnachten ihre Colenbrander-Spielchen. Dabei rannten sie, im Eifer des Gefechts, einen fahrbaren Petroleumofen über den Haufen. Später schrieb De Schakel : »Das Feuer griff so schnell um sich, dass es unmöglich war, die auf dem Dachboden gelagerten Knallkörper zu bergen.« Wie merkwürdig sie doch ist, die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Feuers. Als bei uns die Alarmklingel schrillte, hatten wir schon längst Explosionen gehört und Raketen über den Dächern zerplatzen sehen. Lange bevor Feuerwehrautos über den Zuidvliet und durch die Hoekerstraat in die schmale Sandelijnstraat manövriert waren, betrachtete ich bereits atemlos die Flammen, die bengalisches Feuer entzündeten und Kracher und Knallfrösche kistenweise zur Explosion brachten. Im Schaufenster des Ladens brannte eine hölzerne Spielzeuglokomotive. Sie begann zu fahren, gab ein paar Flämmchen an eine Festtagströte weiter, die sich in nichts aufzulösen schien, drehte sich anschließend blitzschnell dreimal um die eigene Achse und bohrte sich dann in ein Häuflein Engelshaar.
    So war es mir einmal in meinem Leben vergönnt, mich bei Anbruch des Abends länger als ein, zwei Minuten in der Sandelijnstraat aufzuhalten. So sah ich den Laden von Colenbrander, dem dritten Mitglied der Anzündgruppe, in Flammen aufgehen, Flammen, die ganz nebenbei auch noch ein paar andere sowieso für unbewohnbar erklärte Häuschen in Schutt und Asche legten. Ich hörte das ängstliche Federvieh in den Innenhöfen gackern, ich hörte ängstliche Pferde wiehern, und ich selbst fürchtete mich auch, ich fürchtete mich vor der Sanierung, die nun schon seit Jahren über unserem Haupt schwebte, die – angesichts der vielen Brände in unserem Viertel – nun bestimmt bald Wirklichkeit werden würde.
    Am Neujahrstag brach die Feuerwehr mit einer Tradition. Es wurde keine neue Anzündgruppe gewählt. Trotzdem kam es in unserem Viertel immer wieder zu Schornsteinbränden. Es war deutlich: Wir waren immer mehr dazu verdammt, zu verschwinden. Dafür musste man nicht einmal eine Abrissfirma bemühen. Mit der Zeit würden die Verwahrlosung und der damit einhergehende Verfall sowie die immer größer werdende Gefahr von Bränden uns von ganz allein von der Karte wischen, der Karte, auf der wir bereits seit 1950 durchgestrichen waren.
    Dennoch bauten die Colenbranders ihren Spielzeugladen eigenhändig wieder auf. Sie brauchten Monate dafür, obwohl sie selbst an den Abenden noch weiterarbeiteten. Sie bauten, als noch kein Geschäft über dem Deich über etwas Derartiges verfügte, eine riesige spiegelnde Schaufensterscheibe ein. Als der Laden, erbaut aus neuem Holz und neuen Steinen und mit neuen Dachziegeln geschmückt, endlich fertig war, brachte Niek Colenbrander mit kräftigen Hammerschlägen auch ein brandneues Schild über dem Eingang an:

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