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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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Schwester setzte ihre Puppe auf die »schweren Wörter«. Und selbst wenn ihre Geschwister nicht da waren, kostete es sie die allergrößte Mühe, sich zu konzentrieren. Ihre Mutter nähte tagein, tagaus auf ihrer pedalgetriebenen Nähmaschine. Um Geld zu sparen, nähte sie für den eigenen Nachwuchs. Um etwas dazuzuverdienen, nähte sie für die Verwandtschaft. Und wenn ihre Mutter nähte und Nadeln aus den Säumen entfernte, dann steckte sie diese der Reihe nach zwischen die Lippen. Sie konnte sogar reden mit Nadeln im Mund. Es schien, als spräche sie mit dem nadelgespickten Mund fortwährend ihr Missfallen über eine Tochter aus, die es sich in den Kopf gesetzt hatte, die höhere Schule zu besuchen.
    Manchmal nahm sie ihre Bücher und verzog sich auf den Dachboden. Doch im Winter war es dort oben unter den Dachziegeln eiskalt, und sie hörte ständig das Rascheln der Stare und Spatzen zwischen den Dachlatten. Außerdem folgten die Brüder und Schwestern ihr, wenn sie nach oben ging, und spielten dann mit Laken und Decken, dass sie Israeliten wären, die durch die Wüste zogen. Dabei bauten sie ständig Zelte auf und brachen sie wieder ab.
    Und wenn es denn gelegentlich einmal ruhig im Haus war, hörte sie das dröhnende, permanent laufende Radio der Nachbarn. Und ausgerechnet an dem Abend, an dem sie die meisten Hausaufgaben zu erledigen hatte, musste in ihrer eigenen Wohnstube »Der bunte Dienstagabendzug« laufen. Diese herrliche Radiosendung durfte man einfach nicht verpassen, und man musste zudem das Radio ordentlich laut stellen, um das Gehämmer und Gepolter der Colenbranders zu übertönen, die mit dem Wiederaufbau ihres Ladens beschäftigt waren. Trotzdem gelang es ihr, vier Monate durchzuhalten. Sie erzielte gute Noten, allerdings nicht mehr so gute wie früher. Nachts schlief sie, ging jedoch im Schlaf ihre Hausaufgaben noch x-mal durch. Sie redete dabei laut und weckte so Brüder, Schwestern, Vater und Mutter auf. Die wurden wütend, machten ihr Vorwürfe, sodass sie den Rest der Nacht hellwach und todunglücklich dalag und auf die Fabrikpfeife von De Neef & Co. wartete.
    Dann brach sie zusammen. Sie konnte sich nichts mehr merken und begann zu stottern, sie brach mitten im Unterricht in Tränen aus, den einen Tag lief sie mit einem hochroten Kopf herum, am nächsten mit einem leichenblassen Gesicht. Sie war, wie der Schularzt diagnostizierte, »überarbeitet«. Offenbar war die Aufgabe, zwei Klassen in einem Jahr zu machen, für sie doch ein wenig zu schwierig, sagte Herr Stehouwer. Sie solle sich ausruhen. Wenn sie wieder gesund sei, könne sie einfach die normale zweite Klasse besuchen. Ihr Vater war dagegen. Ihre Mutter sagte nichts, hatte aber den Mund voller anklagender Nadeln, die auf sie zeigten. Ihr Vater sagte, es habe sich gezeigt, dass die höhere Schule »nix für Leute wie uns ist«.
    Sie genas erstaunlich schnell. Furchtbar gern wollte sie wieder zurück auf die Fachoberschule, doch davon wollte ihr Vater nichts wissen: »Dir ist die Sache schon viel zu sehr in den Kopf gestiegen, deine Hutgröße muss nicht mehr weiter verändert werden, du bist schon jetzt viel zu eingebildet. Was hast du davon, wenn du so klug wirst? Kein Bursche hier aus der Gegend wird dich später noch haben wollen. Du bist für ’ne Tischdecke zu klein und für ’ne Serviette zu groß. Du landest zwischen allen Stühlen. Ich will nichts davon hören, verstanden! Ich habe mit Leen Strijbos verabredet, dass du Montag bei ihm im Laden anfangen kannst. Die Krämerseele hat, nachdem er zurück untern Deich gekommen ist, gut gewirtschaftet. Der macht jetzt am Markt einen Selbstbedienungsladen auf und braucht noch jemanden an der Kasse.«
    So wurde sie Kassiererin, etwas, das sie nie angestrebt hatte. Sie hatte weiterlernen wollen, einfach weiterlernen. Jetzt saß sie in einem Geschäft an der Kasse und erwies sich dafür wenig geeignet. Sie war nicht freundlich zu den Kunden. Zu Hause antwortete sie mürrisch, wenn man sie etwas fragte.
    »Gefällt es dir nicht?«, zischte ihre Mutter zwischen den Nadeln hervor.
    Sie erschrak bei der Frage. Es war, als würde ihr die Frage erst bewusst machen, wie elend sie sich fühlte.
    »Nein«, sagte sie kurz angebunden.
    »Undankbares Kind«, erwiderte ihre Mutter und hob ein paar Nadeln auf.
    Später, als die Supermärkte überall aus dem Boden schossen und in den Läden mitunter vier, fünf Kassiererinnen am Ausgang saßen, dachte sie oft mit verbitterter Genugtuung: »Ich war

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