Unter dem Deich
summend weiter. Dabei wackelte er nicht, er schwang meistens nicht mal hin und her, sondern hielt sich stolz aufrecht.
In der Schule kam sie sehr gut mit, so gut sogar, dass sie in all den einsamen Kreiseljahren die Klassenbeste war. Der Schulleiter, Herr Cordia, sagte, sie solle die höhere Schule besuchen, und das wollte sie auch gern. Aber wer hatte je gehört, dass ein Mädchen aus der Sandelijnstraat die höhere Schule besuchte? Nicht einmal die Jungs aus der Sandelijnstraat taten das, die gingen, weil die Schulpflicht vorschrieb, dass man bis zur Vollendung des vierzehnten Lebensjahres die Schule besuchte, in die »siebte Klasse«. Sie hingen, weil es nur sechs Klassenräume gab, noch zwei Jahre auf dem Schulhof herum, wo sie ihre ersten Zigaretten rauchten und lernten, wie man ein Moped auseinandernimmt, obwohl sie noch mindestens zwei, drei Jahre warten mussten, bis sie selbst eins fahren durften. Oder sie schwänzten zwei Jahre lang, und keiner beschwerte sich, weil alle froh waren, dass diese hochgeschossenen Schreihälse sich nicht mehr in der Schule blicken ließen.
Und dennoch: Als der Direktor weiterhin darauf drängte, sie nach Vlaardingen auf das Groen van Prinstererlyceum zu schicken, wurde ein Kompromiss geschlossen. Sie musste nicht auf die Haushaltsschule, sondern durfte auf die Fachoberschule. Als sie mit ihrer Schultasche durch die Sandelijnstraat ging, zeigte sich erst so richtig, wie stolz sie war. Sie war im ersten Jahr auf der Fachoberschule so gut, dass der Direktor, Herr Stehouwer, sie und ein paar andere »Koryphäen« zu einer Gruppe zusammenfasste, welche die zweite und dritte Klasse in nur einem Jahr machen sollte. Daher musste sie im zweiten Jahr, das zugleich auch das dritte war, doppelt so viele Hausaufgaben machen. Da fing es sie an zu stören, dass sie in der Sandelijnstraat wohnte, in einem Haus, in dessen Erdgeschoss es ein kleines Wohnzimmer, einen Flur und eine Küche gab und darüber einen Dachboden, wo ihr Vater und ihre Mutter, ihre zwei jüngeren Brüder und ihre zwei jüngeren Schwestern in aneinandergeschobenen Betten schliefen. Der Jüngste, der als Erster zu Bett ging, schlief im hintersten Winkel. Er musste über sechs Betten klettern, um sein eigenes Kopfkissen zu erreichen. Der Zweitjüngste musste nur über fünf Betten krabbeln. Und dank dieses Systems musste niemand ein Bett überqueren, in dem bereits jemand schlief.
Im ersten Jahr auf der Fachoberschule hatte sie ihre Hausaufgaben gemacht, während ihre Brüder und Schwestern draußen spielten, oder nach dem Abendessen, wenn sie schon im Bett waren. Sie hatte einfach in der Wohnstube am Tisch gesessen. Für einen eigenen Schreibtisch war natürlich kein Platz, ganz zu schweigen davon, dass es in dem kleinen Häuschen Raum für ein eigenes Zimmer gegeben hätte. An warmen Tagen setzte sie sich mit ihren Sachen gelegentlich auch in den kleinen Hof zwischen die Kaninchenställe. Aber dort wurde sie durch die Nachbarsfrau abgelenkt, die sie durch einen Spalt in der Trennwand beobachtete, oder durch den Nachbarn auf der anderen Seite, der schon seit Jahren krankgeschrieben war und in einem schmalen, aber unglaublich hohen, den ganzen Hof in Beschlag nehmenden Käfig Kanarienvögel hielt. Der Nachbar war ständig mit seinen Kanarienvögeln beschäftigt und hielt ihnen lange Reden. Wenn sie im Hof Hausaufgaben machte, wandte er sich an sie und berichtete über seine Kanarienvögel.
»Sie sind wie Menschen«, sagte er. »wenn ein Weibchen sich ein Männchen ausgesucht hat, dann bespritzt es dieses mit Wasser. Tja, achte nur mal bei den Menschen darauf: Wenn ein Mädchen einen Jungen nass spritzt, folgt bald darauf die Hochzeit.«
Was im ersten Jahr noch kein Problem darstellte, erwies sich im zweiten Jahr mit dem doppelten Pensum an Hausaufgaben jedoch als unüberwindliches Hindernis. Nirgendwo konnte sie in Ruhe ihre Hausaufgaben machen. Es schien fast, als würde es jeden Tag regnen. Ihre kleinen Brüder und Schwestern blieben zum Spielen im Haus. Und nach dem Abendessen durften sie zudem noch etwas länger aufbleiben. Und sie saß da, unter der einzigen Lampe in der Wohnstube, und versuchte mit immer röter werdendem Kopf französische Vokabeln zu lernen, Englischaufsätze zu schreiben, algebraische Gleichungen zu lösen. Ihre Brüder klappten manchmal, um sie zu ärgern, plötzlich ihre Schulbücher zu. Oder sie machten mit einem Buntstift einen Strich in ein Heft, das aufgeschlagen dalag. Ihre jüngste
Weitere Kostenlose Bücher