Unter dem Deich
die erste Kassiererin hier.«
Dann sah sie sich selbst wieder in dem für Selbstbedienung viel zu kleinen Laden sitzen, mit Aussicht auf den Markt, wo sie früher mit dem Kreisel gespielt hatte. Dann kam es ihr so vor, als könnte sie niemals lange genug leben, um zu vergessen, wie es sich angefühlt hatte, jeden Werktag die extra von Frau Strijbos genähte Uniformjacke anzuziehen, die ihr ein wenig zu klein war und die roch, als hätten in den Taschen tote Mäuse gelegen. Auch Leen Strijbos trug eine solche Jacke und ebenso Piet, der die Regale mit Waren aus dem hinter dem Supermarkt gelegenen Lager auffüllte.
Dadurch, dass Piet und sie die gleiche Jacke trugen und es ihr ohnehin so vorkam, als hätte das Mädchen mit dem Kreisel zu existieren aufgehört, hatte er ihr das Gefühl geben können, dass sie zusammengehörten. So waren sie, unbemerkt, ungewollt ein Paar geworden. Piet war ein einfacher, netter, stiller Bursche aus der Oranjestraat. Sein Vater verdiente sein Geld als Scherenschleifer. Piet sprach nie laut, er flüsterte immer. Abends büffelte er für die Prüfung zum Einzelhandelskaufmann. Irgendwann einmal, vielleicht erst in zwanzig Jahren, könnte er dann ein eigenes Geschäft aufmachen. Als er am Tag des Herrn, auf dem Weg zur Zuiderkerk, durch die Sandelijnstraat ging, hatte sie es nicht verhindern können, dass sie, ebenfalls unterwegs zu diesem Gotteshaus, mit ihm ging und in der Kirchenbank neben ihm Platz nahm. Alle Kirchenbesucher hatten es gesehen, und so hatte das mit ihnen angefangen. Ihr Vater meinte erfreut: »Du hättest es schlechter treffen können. Nein, nein, er ist zwar kein Nabob, aber was macht das schon? Er gehört zu unserer Gemeinde, und seine Eltern sind herzensgute Menschen.«
Sie selbst hatte das Gefühl, noch frei zu sein. Mit Piet ging sie nur zur Kirche. Wenn man wirklich ein Paar war, dann ging man zur Maaskant, oder man spazierte an der Wippersmühle vorbei nach Maasland, wo man den Treidelpfad entlanggehen konnte. Solange sie das nicht taten, hatte sie das Gefühl, in Sicherheit zu sein und auch nicht Schluss machen zu müssen. Piet sprach nie von der Maaskant oder von Maasland, Piet paukte jede freie Stunde für die Prüfung zum Einzelhandelskaufmann. Weil er, genau wie sie, in einer Wohnung ohne Schlafzimmer aufgewachsen war, konnte er zu Hause nicht lernen. Für dieses Problem hatte er allerdings eine Lösung gefunden. Fast jeden Abend ging er irgendwo Babysitten und büffelte dann über dem Deich kaufmännisches Rechnen oder Buchhaltung. Er fragte sie, ob sie vielleicht mitkommen wolle. Sie dachte, dagegen sei nichts einzuwenden. Schließlich begleitete sie ihn nicht zur Maaskant. Außerdem wollte sie nichts lieber, als der übervollen Wohnstube ihres Elternhauses zu entfliehen.
So zog sie Abend für Abend durch die ganze Stadt und passte zusammen mit Piet auf Babys, Kleinkinder und schon etwas ältere Kinder auf. Sie lernte großzügige Wohnzimmer kennen, sah, wie hübsch es war, wenn die Zimmer nicht mit großen Vitrinenschränken und Lehnstühlen vollgestopft waren, sah auch, dass das Fehlen von Väschen, kleinen Holzschuhen und Mühlen auf dem Kaminsims und von gestickten Wandbehängen an der Mauer einem ein Gefühl von Raum und Leere gaben, das die Atmung zu erleichtern schien. In diesen Zimmern lernte sie weiterhin französische Vokabeln und schrieb Französischaufsätze, bis sie das Lehrbuch durch hatte. Es war, als könnte sie durch das Erlernen der Sprache, in der sogar Rue de Sandelin angenehm klang, der Welt entkommen, in der sie lebte. Als sie ihr Lehrbuch durchgearbeitet hatte, griff sie in den Wohnzimmern, in denen sie saß und auf die Kinder aufpasste, zu den Büchern, die es dort gab. Nach einiger Zeit beschäftigte sie sich auch mit Piets komplizierten Aufgaben, weil er, dabei für seine Verhältnisse laut flüsternd, manchmal seine Bücher nahm und sie auf den Tisch pfefferte: »Ich kann es nicht, ich kann es nicht!«
Dann schaute sie sich die Aufgaben an und verstand nicht, was daran schwierig sein sollte. Sie versuchte, ihm zu helfen, und wurde so, ganz nebenbei, immer vertrauter mit der Materie. Nach einem halben Jahr war sie genauso weit wie Piet nach drei Jahren angestrengter Büffelei, und danach dauerte es nicht mehr lange, und sie bereitete sich selbst auf die Prüfung zum Einzelhandelskaufmann vor. Sie fand es wunderbar, sich das bisschen Englisch anzueignen, das für die Prüfung verlangt wurde. Problemlos bestand sie die Prüfung
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