Unter dem Deich
auch ganz in der Nähe von Tante Maud. Du schaust einfach zu, wie ich den Kescher das erste Mal durchs Wasser ziehe, und danach gehst du zu Tante Maud eine Tasse Tee trinken und holst mich hinterher ab.«
Sie ging mit, musste schlucken, als aus dem herausgefischten Hornblatt ein sich windender Blutegel auftauchte, und flüchtete rasch zu Maud. Dort unterhielt sie sich, während sie aus dem Fenster sah und ihr Kind im Auge behielt, mit Maud über ihr Geschäft, obwohl sie im Stillen davon überzeugt war, dass diese Idee ein Luftschloss bleiben würde. Als der Nachmittag sich dem Ende zuneigte, eilte sie zurück zu dem sonnigen Wassergraben, wo ihr Sohn mit dem Netz unermüdlich einen Beutezug nach dem anderen machte.
»Oh, Mama, schau doch nur, ein Wasserskorpion!«
Woher kannte er all diese Namen?
»Und hier, eine Eintagsfliege, und schau mal hier, eine Köcherfliege.«
Sie beugte sich so weit vor, wie der Modergeruch, der aus dem Kescher aufstieg, es zuließ, und versuchte ihrem Kind zuliebe etwas Begeisterung zu heucheln. Zwischendurch ging sie in die Hocke, und wenn sie dann nach einiger Zeit wieder aufstand, hatte sie einen Moment lang das Gefühl, in Ohnmacht fallen zu müssen. Dabei, in diesem nur wenige Sekunden dauernden Augenblick, in dem ihr die Welt wieder bewusst wurde, überkam sie manchmal ein nie da gewesenes Glücksgefühl. Es war, als würde die Welt wirklich für einen Moment existieren, als würde das Sonnenlicht wirklich auf sie hinabscheinen. Alles war spürbar, greifbar, auf eine überwältigende Weise präsent. Ihr war, als könnte sie die schlampig geschichteten Holzstapel auf dem Gelände von De Neef & Co. mühelos ordnen. Es war, als bräuchte sie nur die Hände auszustrecken und die Wolken vom Himmel zu pflücken.
Wegen dieser seltenen Augenblicke folgte sie ihrem Sohn zu dem Graben.
Wenn ihr zukünftiger Mann und ihr Sohn in der Schule waren und sie allein zu Hause saß, dann dachte sie oft an das Gedicht in ihrem Poesiealbum: »Sei zufrieden auf der Welt, sei zufrieden mit dem Leben.« Und sie sehnte sich nach einer schwierigen Aufgabe, nach etwas, für das sie all ihren Verstand und all ihren Mut brauchen würde, nach einer Herausforderung, nach etwas, das sie auf die Probe stellen würde. Dann dachte sie: »Ich bin nun beinahe dreißig Jahre alt, und ich habe noch nie jemanden getroffen, der intelligenter ist als ich.« Weil sie diesen Gedanken nie aussprach, brauchte sie sich dafür auch nicht zu schämen. Jedes Mal, wenn sie dies dachte, wunderte sie sich allerdings darüber, dass dieser eine Spaziergang auf der Coolsingel, den selbst die dümmste Frau hätte unternehmen können, sie so unendlich glücklich gemacht hatte. Sie konnte dieses intensive, alles durchdringende Verlangen nach eleganter Kleidung nicht mit dem Verlangen nach einer schwierigen Aufgabe, die all ihre intellektuellen Fähigkeiten erfordern würde, zusammenbringen. Wenn sie Kartoffeln schälte, dachte sie: »Ich brauche jemanden, der so schlau ist, dass er mir erklären kann, warum ich mich nach zwei so vollkommen unterschiedlichen Dinge sehne.« Sie stellte sich einen schon etwas älteren weisen Mann vor. Oder war es jemand wie der Mathematiker, über den sie kürzlich gelesen hatte, ein gewisser Carl Friedrich Gauß, der schon in der Grundschule so gut hatte rechnen können, dass der Lehrer ihm, um ihn eine Weile zu beschäftigen, aufgetragen hatte, alle Zahlen von 1 bis 100 zu addieren. Darauf hatte der kleine Kerl sofort geantwortet: »5050.« Und dem erstaunten Lehrer dann erklärt, wie er so schnell zu dem Ergebnis gekommen war: »1 plus 99 ergibt 100, 2 plus 98 ergibt 100, und zu diesem Ergebnis kommen wir neunundvierzig Mal, sodass sich das Ganze auf 4900 summiert. Übrig bleiben noch die 100 und die 50, was am Ende 5050 ergibt.« Eine solche Geschichte erfüllte sie mit der größtmöglichen Bewunderung. Sie wusste, dass sie, obwohl sie stets ohne Anstrengung die Klassenbeste gewesen war, so etwas nie gekonnt hätte. Stell dir vor, du begegnest jemandem mit einer derart überlegenen Intelligenz, dass du daneben ganz winzig und unbedeutend erscheinst. Wenn sie das Abendessen bereitete, dachte sie oft an die biblische Geschichte von den Talenten. »Es gibt Menschen mit fünf und Menschen mit zwei Talenten und Menschen mit nur einem einzigen Talent. Einverstanden. Und je mehr Talente man hat, umso stärker ist man dazu verpflichtet, mit seinen Talenten zu wuchern. Einverstanden. Aber wenn du in der
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