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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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Bügeln und Nähen ein paar Cent verdiene, um meine zehn Kinder, von denen vier auch schon Tbc haben, am Leben zu halten.«
    »Oh, hab ich dir wieder auf deine langen Sandelijnstraat-Zehen getreten?«
    »Nein, nein, aber sei mal realistisch: Was zeigen diese ganzen Gemälde? Reiche, gesunde Menschen.«
    »Ach ja, und was ist mit Toulouse-Lautrec? Der hat Huren gemalt.«
    »Die waren auch besser dran als all die Frauen … all die Frauen … hast du auch diese Frau in der Metro gesehen?«
    »Ja«, erwiderte Maud emotionslos, »die kam bestimmt aus Marokko oder Tunesien.«
    Sie wollte etwas erwidern, schlummerte aber erneut ein, obwohl das Licht eingeschaltet blieb. Die ganze Nacht kam es ihr zwischen den fremd riechenden Laken so vor, als sei sie wach, und als sie tatsächlich wach wurde, meinte sie zu träumen. Es schien, als wäre sie wieder Kind, als läge sie krank in der guten Stube in der Sandelijnstraat, als kehrten die Fieberträume von damals in ihrem ursprünglichen Glanz zurück. Vor ihrem Fenster erschien Huibje Koppenol. Dann träumte sie, sie sei tot. Auf dem Weg in den Himmel saß sie im Prahm der Brüder van Baalen. Sie sah den vorüberziehenden blauen Himmel, sie hörte das friedliche Plätschern des Wassers.
    Am Tag darauf, nach zehn, verlor sie erneut das Gefühl für die Realität. Wieder ging sie wie unter einer Glasglocke durch die lärmende, tosende Stadt.
    »Komm, lass uns lunchen «, sagte Maud, und sie dachte: »Was meint sie? Lunchen ?« Allein das Wort entfremdete sie von Maud, die eigentlich in dieser Hölle ihr einziger Halt hätte sein sollen. Sie dachte: »Warum sagst du nicht einfach ›Mittagessen‹ oder ›Mittagspause‹.« Verzweifelt sehnte sie sich nach der Fabrikpfeife von De Neef & Co. Sie saß in einem großen Restaurant, inmitten von Hunderten von Leuten, und während sie all die gut gekleideten und gut genährten Menschen betrachtete, dachte sie: »Wie feinfühlig die Pariser doch sind! So feinfühlig, dass sie es ganz normal finden, bedient zu werden.«
    Dann ging sie auf einmal (nach einer warmen Mahlzeit, und wie sehr erinnerte sie das an die Jahre, als sie noch jeden Mittag warm gegessen hatte) durch ruhigere Straßen. Maud führte sie zu Geschäften, in denen die Kreationen verkauft wurden, deren Namen sie im Zug auswendig gelernt hatte.
    Maud sagte: »Wir müssen uns etwas kaufen, nicht nur, weil es schön ist, sondern damit wir später, wenn wir unser Geschäft eröffnen, etwas zum Anziehen haben.«
    »Etwas kaufen?«, fragte sie. »Hier? Hast du die Preise ge…«
    »Ja, du hast natürlich recht. Unbezahlbar! Aber ich kenne einen kleinen Laden in der Rue Christine, wo Kleider verkauft werden, die von den Mannequins bei Modenschauen schon getragen wurden und deshalb billiger sind. Außerdem leben hier Hunderte, wenn nicht Tausende von Diplomatenfrauen, die es sich nicht erlauben können, bei all den Empfängen, zu denen sie müssen, ein Kleid öfter als einmal zu tragen. All diese Sachen landen in der Rue Christine. Und da gehen wir jetzt hin!«
    Fröstelnd wartete sie, bis Maud die Straße in dem kleinen roten Stadtplan gefunden hatte. Sie ging weiter durch die Gassen, ängstlich, nervös, hastig, sie sah nur eine Flötistin, die etwas Ätherisches spielte und ab und zu, zwischen zwei Noten, die Francs aus einer Herrenmütze nahm. Sie sah einen hilflosen alten Mann in einem fadenscheinigen Anzug aus Kammgarn. Auch dieser Mann streckte ihr die Hand entgegen, und sie legte alle Münzen hinein, die sie bei sich hatte. Sie hörte ihn erstaunt murmeln, dann spuckte er aus, und sie sah, wie er misstrauisch eine Münze nach der anderen in den Mund steckte und darauf biss.
    In der Rue Christine zeigte sich, dass sie, auch wenn sie Pascal las, kein Wort Französisch herausbringen konnte. Maud redete, Maud übersetzte, Maud probierte eine Kombination von Pierre Balmain an, die aus einem ärmellosen Kleid mit einem Rollkragen bestand; der untere Teil war schwarz, das Oberteil hatte schwarze und weiße Querstreifen. Dazu gab es eine schwarzer Jacke mit großen schwarzen Knöpfen und einem Kragen, in dem das Schwarz-Weiß-Muster wiederholt wurde.
    »Wie findest du das?«, fragte Maud.
    »Wunderschön«, sagte sie.
    Sie selbst probierte ein zweiteiliges Kostüm von Chanel an, dessen Jacke keinen Kragen hatte. Der Rock war lang und gerade geschnitten, und sie sah im Spiegel, dass das Kostüm ihren etwas plumpen Körper größer und straffer erscheinen ließ, eine Wirkung, die

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