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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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ich wirklich bis zum Ende meines Lebens Alte und Kranke besuchen? Bin ich geboren worden, um einer alten Frau, die im Altersheim in der Rusthuisstraat wohnt und aussieht wie ein Gnom, zum achtzigsten Geburtstag zu gratulieren? Noch zehn von diesen Frauen, und ich bin reif für die Irrenanstalt! Nein, ich muss etwas tun, etwas, das sinnvoll, schön und spannend ist, etwas, wofür ich ab und zu eine Reise unternehmen muss, etwas, das frischen Wind in eure Stadt bringt. Und darum habe ich mir überlegt, hör gut zu, Ien, jetzt kommt es, darum habe ich mir überlegt, dass es vielleicht gar keine so schlechte Idee wäre, wenn wir beide ein Geschäft aufmachen. Mein Vater war überhaupt nicht damit einverstanden, dass ich Teun geheiratet habe. Und er hat einen guten Riecher gehabt! Er hat gesagt: ›Meinetwegen, heirate diesen Flop, aber vereinbare Gütertrennung.‹«
    »Flop?«
    »Ja, Flottenprediger«, sagte Maud ungeduldig. »Hör zu, mein Vater hatte ordentlich was auf die hohe Kante gelegt und mir alles vererbt, ohne dass Teun darauf Zugriff hat. Deshalb habe ich jetzt einiges an Kapital. Um damit ein Geschäft zu eröffnen. Und weißt du, was lustig ist: Ich habe Abitur, aber damit eröffnet man, soweit ich weiß, kein Geschäft. Aber du armes Schaf aus der Sandelijnstraat bist gelernter Einzelhändler, ich brauche dich, wir sollten Kompagnons werden.«
    Maud trank einen Schluck Wein, ließ ihre zwar noch nicht langen, aber immerhin schon blutroten Nägel eine Runde über den Glasrand drehen und fragte: »Na, was hältst du davon?«
    »Was für ein Geschäft?«
    »Tja, was für ein Geschäft? Gute Frage. Was meinst du? Was würde uns beiden Freude bereiten, wovon haben wir Ahnung, na …?«
    »Keine Ahnung.«
    »Wirklich nicht? Wer ist denn hier schon vor sieben Jahren im Kostüm über die Coolsingel flaniert?«
    »Willst du Kostüme verk…?«
    »Auch, und andere Kleidung, und noch dies und das, wovon die Leute in eurer bescheuerten Stadt noch nie etwas gehört haben. Lippenstifte, Wimperntusche, Nagellack und dergleichen mehr.«
    Sie saß einfach nur da, ihre plötzlich so plumpen Hände im Schoß, das vom Ober nachgefüllte Weinglas noch unangerührt, und Maud sagte: »Wir müssen den Laden nicht durchgehend geöffnet haben. Es reicht, wenn wir uns auf die Nachmittage beschränken. Wir arbeiten abwechselnd, denn schließlich haben wir auch noch Kinder, um die wir uns kümmern müssen.«
    »Ja«, sagte sie, »ja.«
    »Und wir werden Modenschauen organisieren«, fuhr Maud fort. »Zu blöd, dass es in der Scheißstadt keinen ordentlichen Saal gibt, aber vielleicht können wir die Aula der neuen Immanuelkirche bekommen.«
    »Die kriegen wir nie.«
    »Bestimmt. Mit Teuns Hilfe … nein, lach nicht, das muss klappen, ich bin wie geschaffen, um Kleider vorzuführen.«
    »Ja, du hast die Figur eines Mannequins.«
    »Stimmt, ich bin so mager, wenn man aus mir Suppe kocht, schaut nicht ein einziges Fettauge aus dem Topf. Wenn ich mich auf einen Gulden setze, weiß ich sofort, ob ich auf der Seite der Königin sitze oder nicht.«
    »Du bist vollkommen übergeschnappt«, sagte sie.
    »Dann habe ich das zumindest schon hinter mir. Vorfreude ist die schönste Freude. Und natürlich werden wir auch reisen, schließlich müssen wir wissen, was in Paris gerade angesagt ist. Und jetzt in Das Fenster zum Hof .«
    Als Kind hatte sie ab und zu im Gebäude der Heilsarmee Filme von Laurel und Hardy gesehen. Nach der bestandenen Prüfung im Verkehrsunterricht hatte sie im Luxor Das doppelte Lottchen gesehen, aber das war auch schon alles. Von Dunkelheit umgeben, saß sie nun im Kino und verstand nicht, wieso ein Film über einen Fotografen, der aus dem Fenster sah, sie in tiefster Seele berührte. Vielleicht weil sie sah, wer sie hätte sein wollen? Eine Frau wie Grace Kelly, die zwar weit weg von der Sandelijnstraat geboren war, die aber alles, was sie anhatte (und wie wunderschön waren ihre Kleider), mit einer Vollkommenheit, Grazie, Sanftheit und Anmut trug, die sie überwältigte und zu Tränen rührte. Es war, als könnte der Film den Fehler wiedergutmachen, dass sie ihren geheimen Coolsingel-Ausflug mit einer Freundin noch einmal gemacht hatte, die nie verstehen würde, wieso dieser Spaziergang ihr so viel bedeutete. Als sie wieder draußen stand, unter dem rasch dunkel werdenden Abendhimmel, brachte sie kein Wort heraus. Maud schien das nicht zu stören. Sie redete munter über ihr zukünftiges Geschäft und ihre Reisen.

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