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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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Sandelijnstraat immer als die letzte Station vor dem Abgrund betrachtet. Nun zeigte sich, dass sie in einer recht ordentlichen Straße aufgewachsen war. Es kam ihr so vor, als würde ihr der wichtigste Grund genommen, unglücklich und unzufrieden zu sein. Im Vergleich zu den Verworfenen hier war sie nicht länger eine Ausgestoßene, eine Verworfene der Erde, und sie hasste die anderen Verworfenen dafür. Gleichzeitig hasste sie den Groll, den sie in sich spürte. Mit Erstaunen wurde ihr bewusst, dass sie den Groll empfand, weil ihr der Grund für ihre Traurigkeit abhandengekommen war. Doch sie vergaß den Groll wieder, sie war wie betäubt von dem Gehupe und den aus allen Richtungen auftauchenden Autos. Sie ging wie unter einer Glasglocke neben der noch immer munteren und zur Konversation fähigen Maud durch die Stadt. Was sie sah, konnte einfach nicht die Wirklichkeit sein. Manchmal berührte sie einen Papierkorb oder einen Stuhl auf einer der Terrassen, nur um zu fühlen, ob sie wirklich existierten. Sie ließ sich, außerstande, noch irgendwie zu agieren, von Maud ins Schlepptau nehmen. Ihr einziger Halt waren der stille, graue, gelegentlich mit helleren Stellen verzierte Himmel und die seltsame, leicht schwere, aber angenehme Luft, in der sich kein Hauch regte und deren Wärme sie umschloss und umschmiegte. Ihr war, als ginge sie durch eine riesengroße Wasserheizerei. An der Hotelrezeption ließ sie Maud alles regeln. Sie war nicht darauf vorbereitet, dass ein Mann, nachdem Maud und sie den Meldeschein ausgefüllt hatten, ihren Koffer nehmen würde. Sie wollte protestieren, aber ihr fielen nicht die richtigen französischen Wörter ein. Sie folgte dem Mann zum Lift und dachte: »Die große Welt! Einer, der trägt, und einer, für den getragen wird, eine Zweiteilung, die in diesem Fall vollkommen überflüssig wäre.« Es erfüllte sie mit einem Gefühl von tiefstem Abscheu, dass jemand für sie die Tür aufhielt, einen Koffer für sie hinstellte, sich verbeugte. Maud gab dem Mann ein paar Münzen, und ihr Mund trocknete schlagartig aus. Wie sollte sie das je akzeptieren können, eine Welt, in der Trinkgelder gegeben wurden, in der also eine Distanz geschaffen wurde, eine Welt, in der der Gegensatz zwischen über dem Deich und unter dem Deich sich in den einfachsten Kontakten zwischen den Menschen immer wieder neu manifestierte?
    Später, im Musée du Jeu de Paume, dachte sie, ungeachtet ihrer rasenden Kopfschmerzen, beim Anblick der impressionistischen Gemälde: »Auf diesen Bildern sind nur Menschen von über dem Deich zu sehen.« Sie betrachtete die Renoirs, die Monets, die Sisleys und fragte sich: »Hat es damals schon Straßenkehrerinnen in Paris gegeben? Bettlerinnen in der Metro? Warum sind die dann nicht auf den Bildern zu sehen?« Später entdeckte sie das Bild Mohnblumen von Monet. »Die Böschung des Nieuwe Weg, die Böschung von unserem Nieuwe Weg«, ging es ihr sofort durch den Sinn. Sie sah ein Gemälde von Pissarro, das keine Menschen, sondern nur Häuser zeigte, und sie stellte sich vor, dass in diesen Häusern in Lumpen gehüllte Näherinnen saßen und die prächtigen weißen oder hellblauen Kleider für die wunderschönen Damen auf den anderen Bildern nähten, die immer nur sehr elegant und mit großen Hüten in Parks und Gärten spazieren gingen.
    Im Hotel lag sie, gleich nach dem Abendessen, bei dem Maud sie beschworen hatte, Palmherzen zu bestellen, mit brummendem, dröhnendem Schädel im Bett. Maud gab ihr eine Aspirin, die sie widerstandslos schluckte. Danach nickte sie ein, war sich aber ständig bewusst, dass Maud im Bett neben ihr beim Licht der Nachttischlampe las. Sie wachte auf, und Maud sagte: »Ja, ja, ganz schön anstrengend, wenn man es nicht gewohnt ist zu reisen.«
    Sie nickte nur.
    Maud sagte: »Trotzdem würde ich, nur um ins Musée du Jeu de Paume zu gehen, schon nach Paris fahren. All die wunderbaren Gemälde! Ich wünschte, ich hätte im vorigen Jahrhundert gelebt. Stell dir bloß mal vor, du hättest mit so einem langen weißen Kleid und so einem riesigen Hut auf dem Kopf über die Pariser Boulevards flanieren können. Ich bin hundert Jahre zu spät geboren.«
    »Ich nicht«, sagte sie, »ich zum Glück nicht. Wenn ich vor hundert Jahren geboren worden wäre, würde ich jetzt noch in der Sandelijnstraat wohnen, oder vielleicht sogar im Baanslop oder im Schaapslop, und mein Mann wäre möglicherweise bereits an Tbc gestorben, und ich müsste zusehen, dass ich mit Waschen,

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