Unter dem Deich
der Erdkugel zu besuchen und zu beschnuppern. Sie wusste nicht einmal, ob sie gern gereist wäre, sah aber die Schiffe und Züge vorüberfahren und stellte sich vor, sie würde, so elegant wie nur irgend möglich gekleidet, von Stadt zu Stadt eilen. Die Züge, deren Licht auf der Hafenbrücke schwächer wurde, fuhren so nah an ihrer Wohnung vorüber, dass sie die Passagiere sehen konnte. Vor allem in den Zügen zu den Fähren und im Rheingold-Express, der die Hafenbrücke in Windeseile überquerte, saßen in der zweiten Klasse jedes Mal ein oder zwei schick gekleidete Damen, deren Bild, nachdem der Zug vorbeigefahren war, noch lange auf ihrer Netzhaut haftete. Jedes Mal gab ihr der Anblick das Gefühl, der Zug sei das Leben selbst, das Leben, das an ihr vorüberfuhr und sie achtlos zurückließ, in einer kleinen Hafenstadt ohne höhere Schulen und Museen, ohne Theater, Konzertsaal, Universität. Wenn es dann am Abend aber schneite und sie die Flocken lautlos im Licht der Straßenlaterne vor ihrem Haus herabschweben sah, dann schien ihr all das, wonach sie sich sehnte, ein Hirngespinst zu sein. Dann war sie, auch wenn der Zug zur Fähre vorbeikam, beinahe glücklich. Und wenn, was selten vorkam, das Wasser so hoch stieg, dass auch der Pier überflutet war und sie die wogende Widerspiegelung des Straßenlampenlichts betrachten konnte, dann schienen alle ihre Sehnsüchte gestillt, dann konnte sie es sogar akzeptieren, in der Sandelijnstraat geboren zu sein.
Es schneite jedoch selten. Springflut gab es nur ein-, zweimal im Jahr. An all den anderen Abenden sah sie, wenn sie von ihrem Französischbuch aufschaute, zu ihren Füßen ein Stückchen Welt liegen, das, wenn es regnete und stürmte (und wann regnete und stürmte es eigentlich nicht?) seltsam trostlos war. Sie starrte auf die hohen grellgelben Straßenlaternen am Bahnübergang. Es kam ihr so vor, als würde ein wütender Wind immer und immer wieder die Tränen von den weinenden Lampen wischen. Sie hörte das Knarren des langsam hin- und herschaukelnden Schildes, auf dem stand, dass das Berühren der Oberleitung lebensgefährlich sei. Dann kam es ihr so vor, als könnte der Schmerz, den das schrille Quietschen des schaukelnden Schildes hervorrief, nur gestillt werden durch einen entschlossenen Griff an jene Oberleitung.
Was sie in ihrem Zustand chronischer, nur von Springflut und Schnee besänftigter Unzufriedenheit am meisten ärgerte und gleichzeitig am meisten beschämte, war das selbstverständliche Glück von Vater und Sohn. Die beiden schienen ununterbrochen zu lachen und einander zu necken. Wenn Jan zu Hause war, pfiff er die ganze Zeit, und ihr Sohn, der zum Pfeifen noch nicht alt genug war, sang ein Lied nach dem anderen. Sie hörte »Alle meine Entchen« und »Hänschen klein« und »Der Kuckuck und der Esel, die hatten einen Streit«, und sie blickte auf die Hafenbrücke, die Straßenlaternen und das graue Wasser.
Als ihr Sohn fünf war, tauchte er zum ersten Mal einen Kescher in den Wassergraben neben dem Fabrikgelände von De Neef & Co. Aufgeregt kam er mit zwei Salamandern heim, die er in einem Marmeladenglas transportierte. Die beiden Salamander wurden in ein Weckglas gesetzt, waren aber am nächsten Morgen daraus verschwunden. Ihr Sohn war untröstlich, sein Vater sagte jedoch: »In dem Graben sind noch viel mehr Salamander, fang dir doch heute Nachmittag einfach ein paar neue.« Er fing neue Salamander, er fing flinke Tierchen, die seiner Mutter unheimlich waren. Von seinem Vater bekam er ein Aquarium, das er mit all dem füllte, was er aus dem Graben bei De Neef & Co. holte. Manchmal sah sie, wenn sie an dem Aquarium vorüberging, wie eines dieser kommaförmigen Scheusale, die Jan als Gelbrandkäfer bestimmt hatte, sich eine Kaulquappe schnappte und gierig aussog. Was für ihren Sohn ein Quell unendlichen Vergnügens darstellte, war für sie der Beweis, dass derselbe gefühllose Gott, der sie in der Sandelijnstraat zur Welt hatte kommen lassen, auch den Wassergraben geschaffen hatte, in dem jedes Tierchen seinen Nachbarn am liebsten zu verschlingen schien. Ein volles Aquarium war am nächsten Morgen beinahe leer, nur die Gelbrandkäfer sah sie noch schwimmen. Und jedes Mal wurde das Aquarium von ihrem Sohn fröhlich neu gefüllt.
Was sie verdutzte, beunruhigte, war, dass ihr Sohn, der seinen Vater immer bereit fand, ihn zum Graben bei De Neef & Co. zu begleiten, sie jedes Mal anflehte, doch auch mitzukommen.
»Mama, einmal nur! Der Graben is
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