Unter dem Deich
Später, im Bett, stellte sie fest, dass sie sich von all dem, was Maud auf der Rückfahrt gesagt hatte, nur an einen einzigen Satz erinnern konnte: »Trotzdem schade, dass wir in Rotterdam niemandem begegnet sind, der uns erkannt hat.«
3
Als ihr Sohn größer wurde, schien es, als würde ihre Wohnung auf dem Deich schrumpfen. Jan sprach regelmäßig von Umzug. Er sagte: »Es wird Zeit, dass David ein eigenes Zimmer bekommt.« Sie stimmte ihm zu, sie wusste schließlich, wohin es führte, wenn ein Kind ohne eigenes Zimmer aufwuchs, ja sogar ohne einen Platz, an dem sein eigener kleiner Schreibtisch stand. Gleichzeitig dachte sie voller Hader: »Warum sollte David ein eigenes Zimmer bekommen? Hab ich jemals ein eigenes Zimmer gehabt?« Sie missgönnte ihrem Kind das Zimmer nicht, trotzdem schoss ihr immer wieder durch den Kopf: »Ja, in meinem Fall wäre ein eigenes Zimmer sinnvoll gewesen, aber wozu braucht er eins? So brillant ist er doch gar nicht.« Sie hasste sich wegen dieser Gedanken. Jedes Mal, wenn ihr dergleichen durch den Sinn ging, unterbrach sie, wenn David in der Nähe war, ihre Hausarbeit, um ihm kurz übers Haar zu streicheln oder ihm zuzulächeln. Wenn sie abends, den gähnenden Piet beobachtend, von einem derartigen Gedanken befallen wurde, begab sie sich zu Davids Bett und deckte ihn noch einmal sorgfältig zu. Sie betrachtete das beinahe mädchenhafte Gesicht ihres Sohnes und konnte nicht verstehen, warum sie ihm regelrecht übel nahm, dass er den gleichen sonnigen Charakter hatte wie sein Vater. Es schien fast so, als würde sie sich, je ähnlicher ihr Sohn seinem Vater wurde, zunehmend über die Fröhlichkeit und Gutgelauntheit von Vater und Sohn ärgern. Nie fand sie jemanden, mit dem sie ihre eigenen bitteren Stimmungen teilen konnte.
Dann zogen sie um. Bereits am ersten Abend nach dem Umzug, als sie, todmüde von all dem Geschleppe, im Wohnzimmer in einen Sessel fiel, vermisste sie die Aussicht auf Piet. Es war, wie sich bald zeigte, als bräuchte sie abends diesen Anblick, um sich jeden Tag bewusst zu machen, dass es richtig gewesen war, ihn zu verlassen. Außerdem hatte der Anblick etwas Beruhigendes gehabt. Wenn er dort saß, dösend, gähnend und immer wieder einnickend, dann hatte sie gewusst, dass er noch lebte und gesund war, dass der Laden immer noch lief und sie sich nicht allzu schuldig fühlen musste. Was immer sie ihm angetan hatte, er saß da, gähnte und würde bestimmt gut schlafen.
Je öfter die Tage in ihrer neuen Wohnung an der Hafenmole zu Wochen wurden und die Wochen zu Monaten, umso deutlicher spürte sie, wie sie zunehmend unruhiger wurde. Wie mochte es Piet gehen? Manchmal ging sie rasch am Laden vorbei und schaute hinein. Sie sah ihn fast nie, sie sah nur das Personal, das »wieselflinke« Mädchen und einen alten Mann mit grauen Locken, der die Regale nachfüllte. Wenn sie – was sie einmal die Woche tat – zu Maud in die Johan Evertsenlaan ging, um die Pläne für ihr Geschäft zu besprechen, machte sie einen Umweg durch den Hafen und über den Deich und versuchte von der Deichtreppe aus in Piets Wohnung zu schauen. Sie konnte sehen, dass das Licht eingeschaltet war, und das beruhigte sie einigermaßen. Trotzdem hätte sie ihn schrecklich gern beim grün leuchtenden Auge des Radios sitzen sehen. Wenn sie ihn sonntags inmitten der anderen Diakone in dem merkwürdigen, schlurfenden Watschelgang, den die Mitglieder des Kirchenrates sich voneinander abgeguckt haben, aus dem Konsistorialzimmer kommen sah, hatte sie wieder ein paar Tage Ruhe. Nichtsdestotrotz überkam sie allabendlich das Gefühl, als würde das Fehlen der früheren Aussicht noch durch das Panorama betont, das sie jetzt stattdessen vor sich hatte.
Vom Wohnzimmerfenster fiel der Blick auf die Eisenbahnbrücke, den Hafen und die Maas. Jeden Abend sah sie die beleuchteten Züge vorüberfahren, deren Licht auf der Brücke, wo es keine Oberleitungen gab, kurz schwächer wurde. Es war, als würde das Licht gedimmt, weil die Züge an ihrem Haus vorbeifuhren. Sie sah auch auslaufende und in den Hafen einlaufende Schiffe. Eigentlich sah sie nur rote und grüne Bord- und Topplampen, die sich entfernten oder näher kamen. Auf der Maas wiederum sah sie andere Lichter dahingleiten, und es war, als erinnerten all diese sich bewegenden Lichter der Schiffe und Züge sie noch einmal daran, wie groß die Welt war, so groß, dass ein Leben, nur mit Reisen verbracht, trotzdem nicht ausreichte, um jeden Quadratkilometer
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