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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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Sandelijnstraat geboren bist und nie in Erfahrung hast bringen können, wie viele Talente du nun eigentlich hast, was dann?« Vielleicht musste sie sich damit abfinden, dass sie ihre Talente nicht würde nutzen können, vielleicht war sie ja auch gar nicht so begabt. Aber wie sollte sie das herausfinden, wenn ihr keine schwierigeren Aufgaben gestellt wurden, als das Haus sauber zu halten, die Wäsche zu waschen und warme Mahlzeiten zuzubereiten? Es war nicht so, dass sie diese Arbeiten hasste oder minderwertig fand – man hatte beim Kochen zumindest etwas Zeit für sich und konnte sich allerlei Gedanken machen –, aber sie sehnte sich nach Bergen, die sie nicht mit ihrem Glauben, sondern mit ihrem Verstand würde versetzen können. Darum hatte sie auch keine Lust mehr auf die simplen Bücher von Simenon. Darum hatte sie sich von Teun die Pensées von Pascal ausgeliehen und versuchte, das Französisch dieses Mannes zu verstehen, der, so hatte sie der Einleitung entnommen, ein ebensolches Wunderkind wie Gauß gewesen war. Und je besser sie sich in seiner Welt zurechtfand, umso mehr schien es ihr, wenn sie abends von ihrem Buch aufschaute und die Züge vorbeifahren sah, dass sie endlich etwas gefunden hatte, das ihren Mangel an guter Erziehung und einer guten Ausbildung einigermaßen wettmachte. Vor allem ein Satz war ihr Quelle großen Trostes: »Ich sehe die unglaublichen Räume des Weltalls, die mich umschließen, und ich weiß mich gebunden an einen Fleck in dieser Unendlichkeit, ohne dass ich wüsste, warum ich gerade hier und nirgendwo anders hingestellt wurde oder warum für die kurze Zeit, die ich zu leben habe, mir diese Zeitspanne zugewiesen wurde und nicht eine andere in der ganzen Ewigkeit, die mir vorausgegangen ist und die mir noch folgt.«

4
    Unterwegs versuchte sie fünf Stunden lang herauszufinden, warum Maud sie eingeladen hatte, mit nach Paris zu fahren. Fünf Stunden lang hörte sie, mit Unterbrechungen, denselben Refrain.
    »Bevor wir unseren Laden eröffnen, müssen wir uns in Paris mit eigenen Augen ansehen, was gerade der letzte Schrei ist.«
    Sie dachte: »Sollen wir den Leuten, die um die Vliete herum wohnen, etwa Pariser Mode verkaufen?« Es kam ihr absurd vor, doch sie hörte in den fünf Stunden so oft die Namen Dior (»ist vor Kurzem gestorben«), Yves St. Laurent (»wurde sein Nachfolger«), Chanel (»hat im Krieg kollaboriert, ist aber glanzvoll wiedergekommen«), Balmain (»mein Favorit«), Lanvin, Patou, Givenchy (»zu denen kann ich nichts Sinnvolles sagen«), dass sie, als der Zug in den Gare du Nord einfuhr, mit diesen Namen ebenso vertraut war wie mit den Jüngern Jesu. Das unvorstellbar geschäftige Treiben, das im Bahnhof herrschte, verschlug ihr die Sprache. Allerdings sah sie auf dem Weg zur Metro etwas, das ihr, obwohl sie nicht genug Zeit hatte, es genau zu betrachten, einen so gewaltigen Schock versetzte, dass sie, vollkommen perplex, im Gang zur Metro über die Beine einer auf dem Boden sitzenden Frau stolperte. Danach hatte sie das Gefühl, dass sie die Straßenkehrerin auf einem der Bahnsteige (»Eine Straßenkehrerin? Gibt es hier in Paris Straßenkehrerinnen? Aus welcher Sandelijnstraat stammt die denn?«) nur gesehen hatte zur Vorbereitung auf den noch sehr viel schockierenderen Anblick einer Frau in einem zerrissenen Kleid mit Blümchenmuster und einer früher einmal scharlachroten Jacke, die ausgefranste Löcher an den Ellenbogen hatte, die bestimmt nicht von irgendeiner Mode vorgeschrieben wurden. Während sie sich wieder berappelte, bemerkte sie neben der Frau ein etwa zweijähriges schlafendes Kind, und durch den Gang kam ein zweites, bereits etwas älteres Kind angelaufen. Die beiden waren in derart schäbige Fetzen gehüllt, dass sie dachte: »Da würde sich der Lumpensammler in unserer Straße weigern, das mitzunehmen.« Die Frau, über deren Beine sie gestolpert war, streckte einen Arm aus. »Was will sie?«, schoss es ihr durch den Kopf. »Soll ich vielleicht ihre Hand nehmen und ihr aufhelfen?« Sie streckte ihre Hand aus, die Frau zischte ein paar Worte, die sie, obwohl sie Pascal lesen konnte, absolut nicht verstand. Erst jetzt wurde ihr klar, dass die stark, aber auf keinen Fall nach Chanel No 5 riechende Frau sie mit der ausgestreckten Hand um Geld anbettelte.
    Stunden später waren ihr noch so viele andere Frauen und so viele andere in Lumpen gehüllte Kinder auf der Straße begegnet, dass ihr ganzes Weltbild ins Wanken geriet. Sie hatte die

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