Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
Vom Netzwerk:
sich so richtig zeigte, als sie gebrauchte, aber neu aussehende Pumps mit hohen Absätzen dazu anzog. Ihr Spiegelbild seufzte. Sie dachte: »Siehst du, es stimmt doch. Gib mir elegante Kleider und Schuhe, und schon zeigt sich, dass ich nicht von der Straße stamme. Nicht aus der Sandelijnstraat.«
    Als sie wieder draußen war und sie sich schuldig fühlte, weil Maud alles bezahlt hatte (»natürlich bezahle ich, das ist die erste Investition in unser Geschäft, aber wenn du willst, dann gibst du mir das Geld, sobald der Laden richtig läuft, wieder«), da schien es ihr, als könnte sie jetzt, da sie so gut gekleidet war, ungerührt an den Straßenkehrerinnen und Bettlerinnen vorübergehen, als könnte sie zum ersten Mal in einem Restaurant essen, ohne sich zu schämen. In den Schaufensterscheiben sah sie sich vorübergehen.
    Maud sagte: »Jetzt kommen wir der Sache langsam näher.«
    »Ja.« Sie betrachtete das Balmain-Kostüm, in dem Maud zerbrechlich wirkte. »Du sprichst so gut Französisch«, sagte sie.
    »Ja«, sagte Maud, »reine Übungssache, ich bin schon so oft in Paris gewesen. Mein Vater hat Paris über alles geliebt. Als ich fünfzehn war, hat er mich das erste Mal mitgenommen.«
    »Kannst du mir erklären«, sagte sie, »warum ich kein Wort Französisch herauskriege, obwohl ich die Sprache doch ziemlich gut lesen kann?«
    »Passive Sprachbeherrschung heißt noch lange nicht, dass man eine Sprache auch tatsächlich sprechen kann. Und außerdem … weißt du, was das Geheimnis der aktiven Beherrschung einer Sprache ist?«
    »Nein.«
    »Du musst ein Schauspieler, eine Schauspielerin sein. Du musst dir vorstellen, du wärest eine Französin. Du musst wirklich ein anderer Mensch werden.«
    »Das kann ich nicht.«
    »Das kannst du wohl. Du bist längst ein anderer Mensch. Du musst jetzt nur noch die Sprache dieser anderen, die du schon bist, sprechen. Du solltest mal sehen, wie Menschen, die zweisprachig aufgewachsen sind, sich komplett verändern, wenn sie von der einen in die andere Sprache wechseln. Alles verändert sich, ihre Gesten, ihre Mimik, ihre Stimme. In der einen Sprache sind sie Draufgänger, in der anderen Presbyter.«
    »Ich fürchte, ich werde in keiner Sprache jemals eine Draufgängerin sein.«
    »Nein, aber auf Niederländisch bist du ein Landei, auf Französisch könntest du, wenn du noch ein wenig an deinem Äußeren feilst, eine Gräfin werden.«
    Sie wollte Pascal zitieren (»Niemand spricht von einem ›Provinzler‹ außer einem ›Provinzler‹«), sagte aber: »Was muss ich denn machen?«
    »Andere Frisur. Ohrringe vielleicht. Die Nase kleiner schminken.«
    »Kennst du dafür zufällig auch eine billige Adresse?«, fragte sie leichthin und dachte dabei erneut an Pascal: »Wäre die Nase der Kleopatra kürzer gewesen, hätte das Antlitz der Erde ein anderes Aussehen bekommen.«
    »Ich kenne eine Adresse, wo man sich die Haare gratis von Friseurinnen schneiden lassen kann, die noch in der Lehre sind«, sagte Maud.
    Wieder ging sie durch die Gassen, wo Bettlerinnen saßen oder lagen. Sie sagte: »Merkwürdig, dass man sich die Haare frisieren lassen muss, um eine andere Sprache sprechen zu können.«
    Am Ende des Nachmittags war sie eine Französin geworden, die vor Erschöpfung kein Wort mehr über die Lippen brachte. Sie lag auf dem Bett und dachte: »Was für ein wunderlicher Französischkurs. Was für merkwürdige Lehrerinnen: eine Friseurin und eine Kosmetikerin.« Sie fiel wieder in Schlaf, träumte von breiten Flüssen, die gemächlich an hohen Pappeln vorüberflossen. Zwei Stunden später saß sie gegenüber von Maud in einem ruhigen vietnamesischen Restaurant und betrachtete die Servietten, die wie weiße Bischofsmützen auf den Tischen standen. Sie dachte: »Warum hat Maud mich mit nach Paris genommen?«
    Sie sah, dass Maud zu viel trank und dass die Farbe ihrer Wangen allmählich den Ton der von der Kosmetikerin perfekt lackierten Nägel annahm. Sie hörte Maud sagen: »Ich habe Lust, einmal fürchterlich über die Stränge zu schlagen.«
    »Wie denn?«, fragte sie ironisch und zugleich misstrauisch.
    »Ach, Ien, ich würde … ich will …«
    Sie sah, wie Maud in ihr leeres Glas starrte, es um neunzig Grad drehte und wieder hineinstarrte. Sie spürte, wie sich die Luft unter ihrem Tisch bewegte, weil Maud mit einer entschiedenen Bewegung ihre Knie so weit spreizte, wie es der Rock von Balmain zuließ.
    »Einmal, Ien, ein einziges Mal.«
    »Was denn«, fragte sie.
    »Ich

Weitere Kostenlose Bücher