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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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wünschte, ich hätte eine Zigarette«, sagte Maud.
    »Rauchst du?«, fragte sie erstaunt.
    »Selten, sehr selten«, erwiderte Maud, »ich stelle es mir so herrlich vor, eine lange Zigarettenspitze zwischen den langen lackierten Nägeln zu halten. Du nicht?«
    »Äh, nein«, sagte sie misstrauisch und dachte: »Will sie etwa lediglich mit einer Zigarettenspitze über die Stränge schlagen?«
    Ein sprödes, dunkelhäutiges vietnamesisches Mädchen brachte das Dessert – zwei weiße Eiskugeln und ein paar Früchte, die aussahen wie geronnener Kleister – und stellte die zwei Schälchen unsanft auf den Tisch. Das munterte sie ein wenig auf. Einmal eine Frau, ein Mädchen, das zeigte, wie sehr es die Rolle der Kellnerin verabscheute.
    »Ich wäre so gern Schauspielerin geworden«, sagte Maud, »ich hätte so gern zum Beispiel die Lulu gespielt, auch wenn ich nicht die Figur dafür habe.«
    »Lulu?«, fragte sie.
    »Ja, kennst du Lulu nicht? Aber die muss man doch kennen.«
    »Und woher sollte ich die kennen?«
    »Du hast doch bestimmt mal, wenn dir langweilig gewesen ist oder du nichts zu lesen hattest, in einem Lexikon rumgeschmökert. Ich habe oft irgendeinen Band der Enzyklopädie meines Vaters aus dem Regal genommen und darin geblättert. Dabei habe ich sehr viel gelernt.«
    »Bei uns zu Haus gab es nur ein einziges Buch.«
    »Nur ein einziges Buch?«
    »Ja, die Bibel, die lag auf dem Kaminsims.«
    »O ja, natürlich«, sagte Maud, »ja, nur ein einziges Buch, du armes Schaf, aber du konntest … du durftest … niemand hätte etwas dagegen gehabt oder komisch geguckt, wenn du mit einer Kaninchendrahtfrisur durch die Sandelijnstraat stolziert wärst. Du hättest eine Dirne, ein Straßenmädchen sein können. Und ich? Meine Mutter hat nur ein einziges Wort gekannt: anständig. Und heute? Heute kann ich immer noch keinen Millimeter nach links oder rechts abweichen. Wenn ich eine Hose trage, schauen mich dreitausend Gemeindemitglieder an, als müsste ich vor den Sanhedrin geschleppt werden. Wegen einer Hose, einer ganz normalen Hose! Nichts darf ich machen! Ich habe weniger Bewegungsfreiheit als Daniel in der Löwengrube. Und das, obwohl ich Schütze bin, obwohl in mir zehn, hundert Menschen stecken, die alle, jeder Einzelne, ab und zu mal raus wollen. In mir steckt eine Geliebte, eine Hexe, eine Marketenderin, ein Filmstar, ein Mannequin, eine … ach, Ien, bestimmt auch für ein einziges Mal nur: eine Hure. Am Ende des Monats gehen anständige französische Frauen, die ein paar Tage überbrücken müssen, bis sie wieder Haushaltsgeld bekommen, in der Nähe der Champs-Élysées in ihren schönsten Kleidern auf die Straße, um sich zu verkaufen. Ein einziges Mal nur, Ien, ich auch, nur ein einziges Mal, heute ist ja schon der 25.«
    »Aber du bist doch nicht etwa pleite?«, fragte sie, um Zeit zu gewinnen und um die Verzauberung durch die schmeichlerische, alkoholisierte Stimme von sich abzuschütteln.
    »Nein, natürlich nicht, ich möchte nur ein einziges Mal … ist das so verrückt? Einmal nur, aber ich traue mich nicht allein, ich dachte, du könntest vielleicht … weil du doch … du kommst doch aus so einem Viertel.«
    Dann saß sie da und spürte nicht einmal, wie sich ihre Hände um ihre Kniescheiben schraubten. Sie dachte: »Das ist also der Grund, weshalb sie mich mitgenommen hat. Von wegen Geschäft, von wegen Mode, von wegen Chanel, von wegen Balmain. Deshalb musste ich zunächst ein Kostüm anziehen und mich anschließend zum Friseur und zur Kosmetikerin schleppen lassen.« Plötzlich spürte sie den Schmerz in ihren Knien, sie legte die Hände auf den Tisch und sagte nur: »Nein.«
    »Na, komm schon, Ien, ein einziges Mal.«
    »Nein«, sagte sie und dachte: »Sie hat noch nie so oft meinen Namen ausgesprochen wie in den letzten zehn Minuten. Da kann man mal sehen, dass man wie ein Schießhund aufpassen muss, wenn die Menschen einen beim Namen ansprechen.«
    »Aber wir stellen uns doch nur dort hin«, sagte Maud, »natürlich gehen wir nicht mit einem der Männer mit. Wohin sollten wir mit denen auch gehen? Wir stehen nur da, als wären wir Huren, und wenn uns jemand anspricht, kreischen wir auf Niederländisch: ›Nein, du Drecksack, nicht mit dir!‹ Oder wir nennen einen absurd hohen Betrag, sodass der Kerl vor Schreck tot hintenüberfällt. Es geht doch nur darum, einmal zu erleben, wie es sich anfühlt, als Hure betrachtet zu werden. Einmal nur. Es reicht, wenn die Leute denken, wir würden

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