Unter dem Deich
es ihr durch den Sinn, »dass sie an einem derart erbärmlichen Fluss und in einer derart abscheulichen Stadt leben müssen.«
»Und jetzt wieder überlegen«, sagte sie laut, weil sie bemerkte, dass sich ein Mann nach ihr umschaute. »Unser Hotel befindet sich also auf der Nordseite. Gut. Westlich oder östlich von meinem jetzigen Standpunkt? Das weiß ich nicht. Jedenfalls hat es keinen Sinn, einfach auf gut Glück loszugehen. Aber halt, da drüben war ich schon mal. Dort liegt das Jeu de Paume. Da sind wir am ersten Nachmittag von unserem Hotel aus hingegangen.«
Bei dem Museum angekommen, erinnerte sie sich daran, dass sie aus der Rue de Rivoli gekommen waren. Sie bog in die Straße, und ihr fiel ein, dass sie auf dem Weg zur Rue de Rivoli das Palais Royal passiert hatten. Sie betrat den Innenhof des Palais Royal und blickte dort, in dieser stillen, schattenreichen Welt, hinauf zu dem viereckigen Stück Blau, das vom Dach des Palastes aus dem Himmel geschnitten wurde. »Es kommt mir beinahe so vor, als stünde ich auf dem Damplein«, dachte sie erstaunt. Sie ging an den Laternen entlang. Als sie die Nordseite des Palais erreichte, wusste sie nicht mehr weiter. »Ich schlage von hier aus einen weiten Bogen. Dann sehe ich ja, ob mir irgendwas bekannt vorkommt.« Sie ging los, ihre Füße, von bekannten Sohlen massiert, taten inzwischen viel weniger weh, und sie vernahm in all den kleinen Straßen, die in die Rue des Petits Champs mündeten, dünne, flüchtige Stimmen. Sie sah die Lichter, und es kam ihr so vor, als wäre sie wieder ein Kind und befände sich in der Nieuwstraat. Sie dachte: »Bald hab ich Geburtstag, bald hab ich Geburtstag. Muss ich extra nach Paris reisen, um mich daran zu erinnern, wie ich als Kind überglücklich durch die Nieuwstraat gegangen bin?« Sie war so entzückt über die Entdeckung uralter, unerwarteter Glücksgefühle, dass sie, übermütig geworden, in eine der hell erleuchteten Straßen einbog. Sie ging immer weiter. Jede Straße endete am Beginn einer neuen Straße. Sie dachte: »Die Sandelijnstraat, wie oft mag es die in Paris geben? Hundertmal? Tausendmal? Irgendeine muss doch zu finden sein.« Sie fand die Rue St. Denis, folgte dieser bis zur Porte St. Denis und sah die vielen Mädchen dort stehen, Mädchen, die meist nichts Flittchenhaftes hatten, die sie aber dennoch mit einem merkwürdigen, unbestimmten, unklaren Gefühl von Scham erfüllten, das gerade noch so kein Entsetzen, keine Bestürzung war. Auf dem Boulevard Bonne Nouvelle erkannte sie das Restaurant wieder, in dem ihr die Palmherzen aufgeschwatzt worden waren, und erst in diesem Moment dachte sie: »Mein Gott, wie mag es Maud wohl gehen?« Von den Palmherzen aus war es nicht schwierig, zum Hotel zurückzufinden. Sie bat um den Schlüssel, ging in ihr Zimmer, öffnete die Tür, ging hinein, zog ihr Chanel-Kostüm aus, kroch zwischen die fremd riechenden Laken und flüchtete sich in den Schlaf. Sie träumte – und es war ein Traum, den sie nie wieder vergessen sollte und der an Klarheit, Kraft und Intensität alle anderen Träume in ihrem Leben mühelos übertraf –, dass sie die Breede Trappen hinabging. Sie ging die Veerstraat entlang, vorbei an dem Prahm von van Baalen, aus dem Kinderstimmen erklangen, und weiter zum Markt. Dort war es bereits Abend geworden, und die Lampen brannten. Mit beiden Daumen und beiden Zeigefingern brachte sie ihren Kreisel in Schwung. Sie schlug mit der Peitsche. Der Kreisel rotierte geräuschlos, verharrte an einer Stelle. Sie musste ihm nur hin und wieder einen leichten Schlag verpassen. Dann hörte sie, Stunden später, hinter sich eine Stimme: »Kind, es ist schon spät. Musst du nicht mal langsam nach Hause?« »Wenn mein Kreisel umfällt«, erwiderte sie, »vorher nicht.« »Aber dein Vater und deine Mutter machen sich bestimmt Sorgen«, sagte der Polizist. »Macht nichts«, entgegnete sie, »die wissen, dass ich hier immer mit meinem Kreisel spiele.« Sie dachte: »Wie schade, dass ich keine Nagellackstreifen auf meinen Kreisel gemalt habe. Was für einen wunderschönen Kreis das Rot ergeben hätte.« Es wurde später und später, sie hörte die Glocke der Grote Kerk zwölf Uhr schlagen. Den Mund mit lauter Nadeln gespickt, näherte sich ihre Mutter. Mit ihrer Peitsche schlug sie ihr sämtliche Nadeln aus dem Mund. Ihre Mutter verschwand. Sie hörte Schritte, sie hörte, wie eine Tür sich öffnete, sie erwachte und dachte: »Ist das wirklich einmal passiert? Habe ich
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