Unter dem Deich
eiskalten Konsistorialzimmer, wie sie die Antworten des Kleinen Katechismus herunterratterte. Sie hörte das Zischen der anderen Mädchen, weil sie als Einzige die Antworten des Kleinen Katechismus auswendig gelernt hatte. Sie roch die Ausdünstungen ungewaschener Kirchenbesucher. Sie hörte den schrillen Kirchengesang, der einen halben Takt hinter der Orgel herschlurfte, die ebenfalls in den letzten Zügen zu liegen schien. Sie sah die schief gebügelten Falten in der Decke, die auf dem Abendmahlstisch lag. Sie dachte: »Warum muss alles so ärmlich, so kahl, so schmucklos sein? Warum muss alles so erbärmlich aussehen? Mein Gott, eine Samttafel, allein das schon!« Später, als sie im Bett lag, sah sie den Esel immer noch vor sich. Sie versuchte, an etwas anderes zu denken, aber dann fiel ihr der Satz ein, über den sie bei der Pascal-Lektüre so erschrocken gewesen war. »Für den Beweis von Jesus Christus ist es erforderlich, dass sowohl das jüdische Volk weiterexistiert, wie auch, dass es in Elend lebt, denn sie haben ihn gekreuzigt.«
6
»Hier gibt es ja noch Gaslaternen«, sagte Maud erstaunt.
»Die werden nicht ausgetauscht«, erwiderte sie, »das Viertel wird demnächst sowieso saniert.«
Sie sah, wie ihre Schatten schrumpften, je näher sie der Gaslaterne kamen. Sie betrachtete die Wassertröpfchen auf Mauds Pelzjacke. Es war, als schwebte das leise summende Gaslicht in die Tröpfchen hinein und nähme Besitz von ihnen. »Die Gaslaternen haben vielleicht noch nie eine Pelzjacke gesehen«, dachte sie. Im Nebel tauchte ein Mann auf, der eine Zeitung trug. Sein Gruß, ein feuchter Atemstoß, war unverständlich. Durch jedes erleuchtete Fenster, vor dem die Vorhänge offen standen, schaute Maud neugierig nach drinnen.
»So arm können die Leute hier doch gar nicht sein«, sagte sie, »fast alle haben einen Fernseher.«
»Aber nichts anderes«, erwiderte sie.
»Na, und für die Möbel muss man sich doch auch nicht schämen.«
»Riesige Schränke in winzig kleinen Zimmern«, sagte sie, »die wirklich schönen Sachen hat Smytegelt sich unter den Nagel gerissen.«
Wieder tauchte im Nebel ein Mann auf, der – ebenso wie jener, der wenig später die Lijnstraat überquerte – eine Zeitung unter dem Arm trug.
»Deine Eltern wissen doch, dass wir kommen?«, fragte Maud.
»Mehr oder weniger«, sagte sie und dachte: »Hier unter dem Deich würde keiner seinen Vater und seine Mutter ›meine Eltern‹ nennen.«
»Mehr oder weniger?« Maud war erstaunt. »Hast du denn für heute Abend keinen Termin gemacht?«
»Termin?«
Das Wort klang seltsam unter den summenden Gaslaternen, die ihr Licht nicht auf die Straße ausstrahlten, sondern von der Straße aufzusaugen schienen. »Termin«, murmelte sie, »hier macht man keine Termine.«
An der Ecke von Lijnstraat und Lijndwarsstraat brannte eine Laterne, deren eine Kugel ab und zu kurzzeitig erlosch. Schon von Weitem sah es so aus, als hörte die Welt dort mit kurzen Pausen auf zu existieren. Als sie näher kamen, hörte sie die Lampe knistern, als versuchte sie verzweifelt, etwas zu erzählen. Sie sah Schatten erscheinen und wieder verschwinden, sie sah erleuchtete Fenster, blau flackernde Fernsehbildschirme, sie sah Wohnstuben mit lauter Menschen, die auf ihren Stühlen hingen. Sie dachte: »All die Stunden, die nutzlos vergehen! Wenn ich so viel Zeit hätte! Wie sinnvoll würde ich die Stunden verwenden! Ich könnte Englisch lernen, ich würde Bücher lesen. Schenkt mir eure verbummelten Stunden!« Sie sah Hausfrauen, die, obwohl es Abend war, immer noch ihren Kittel trugen. In einer der Wohnstuben sah sie viele Menschen in einem großen Kreis zusammensitzen. »Da wird Geburtstag gefeiert, die trinken Magenbitter, die löffeln Eierlikör oder Genever mit Zucker aus kleinen Schnapsgläsern.« Sie bogen in die Sandelijnstraat. Mit auf den Steinen klappernden Absätzen ging sie durch ihre Straße.
Maud sagte: »Hier gibt es ja nicht einmal Bürgersteige.«
»Wir sind da.«
Sie sah, dass Maud erschrocken das Schild »Für unbewohnbar erklärt« betrachtete. Sie sagte: »Das Schild hängt da inzwischen seit zwölf Jahren.«
»Oh«, sagte Maud.
Mit ihrem Universalschlüssel öffnete sie die Haustür. Sie betrat den Flur, drückte die Zimmertür auf und hörte das Rattern der Pedalnähmaschine.
»Guten Abend«, sagte ihre Mutter zu Maud.
Ihr Blick schweifte durchs Zimmer, und sie sah all die Väschen, versilberten Bilderrahmen, Holzschühchen, die auf der
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