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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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Chanel werden können?« Sie sah all die Kleidung vor sich, die ihre Mutter, ohne Hilfe eines Schnittmusters, in all den Jahren ihrer Kindheit und Jugend genäht hatte. Sie erinnerte sich daran, dass sie sich in der Schule, obwohl Kinder an sich doch gnadenlos sind, nie eine Bemerkung wegen der selbst geschneiderten Kleider hatte anhören müssen. Es kam ihr plötzlich so vor, als erstreckte sich ihr Schmerz über die verpassten Chancen auch auf das Leben ihrer Mutter. Sie dachte an ihre Großmütter, sah sie vor sich, waschend, schuftend, gebärend. Sie dachte an all die verschwendeten Talente, all die Möglichkeiten, die nie realisiert worden waren. Sie dachte an all die Wochenbetten und erschauderte.
    In ihrem wunderschönen blauen Kostüm bewarb sie sich um eine Stelle als Sekretärin bei Key & Kramer. Sie wurde eingestellt, obwohl sie nicht mit der Schreibmaschine umgehen konnte. Sie nahm rasch ein paar Stunden Unterricht, und schon nach wenigen Wochen schrieb sie so gut, dass niemand bei Key & Kramer eine komische Bemerkung machte. In ihrem wunderschönen blauen Kostüm besuchte sie Maud, die nach der Rückkehr aus Paris krank geworden war. Eine hartnäckige Grippe, die Maud einfach nicht loswurde. Sie saß am Krankenbett und hörte Maud erstaunt fragen: »Woher hast du dieses phantastische Kostüm?«
    »Hat meine Mutter gemacht.«
    »Deine Mutter?«
    »Ja, die näht schon seit fünfzig Jahren.«
    »Warum hast du das nicht früher gesagt?«
    »Warum hätte ich?«
    »So jemand ist doch für unser Geschäft Gold wert! Wenn es mir besser geht, mache ich mich sofort auf den …«
    »Ich denke nicht, dass sie für uns würde arbeiten wollen.«
    »Ach, bestimmt würde sie.«
    »Du kennst meine Mutter nicht.«
    »Nein, aber eines habe ich im Leben gelernt: Mit Geld kann man jeden kaufen.«
    Maud blieb weiterhin krank. Sie übernahm die Betreuung von Mauds Tochter, bereitete hin und wieder für Teun eine Mahlzeit zu.
    Er sagte: »Maud geht es nicht gut. Sie hadert mit ihrem Glauben. Auf mich hört sie nicht.«
    »Auf mich auch nicht«, sagte sie.
    »Aber ja doch«, sagte er, »du bist die Einzige, von der sie etwas annimmt, die Einzige, zu der sie aufschaut, bitte, rede du mit ihr, versuch du, sie wieder teilhaben zu lassen am Heil, das Christus uns geschenkt hat.«
    »Die Einzige, zu der sie aufschaut.« Sie konnte es nicht glauben. Maud war eine Frau, die, was Erziehung und Bildung anging, sämtliche Leute von »über dem Deich« überragte. Und diese Maud sollte zu ihr aufschauen? Zu einem Mädchen aus der Sandelijnstraat? Sollte sie wirklich versuchen, Maud zum Glauben zurückzuführen? Es war, als stellte sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben die Frage, ob sie selbst denn glaubte. Sie hatte, da das Problem ihrer Herkunft sie ständig beschäftigt hatte, schlicht nie die Zeit gefunden, um darüber nachzudenken. Sie wusste nicht, wie sie am Krankenbett »das einzig Notwendige« zur Sprache bringen sollte. Vielleicht wäre sie letztlich auch nie darauf zu sprechen gekommen, wenn nicht, vollkommen unerwartet, der neue für ihr Viertel zuständige Pastor, den eine Berufungskommission nach langem Suchen in Surhuisterveen aufgespürt hatte, zu Besuch gekommen wäre. Er war ein Glaubenseiferer mit Bürstenhaarschnitt. Das Kerlchen, schon seit Jahren im Niedermoor versauernd, hatte den an ihn herangetragenen Ruf sofort angenommen. Der Kirchenrat trug ihm auf, sich des Falls »Schwester Hummelman« noch einmal entschlossen anzunehmen. Er war noch nicht einmal offiziell eingeführt, als er, kurz bevor sie zur Arbeit gehen wollte, auf dem Havenplein erschien. Er ging sofort zum Angriff über.
    »Schwester, das muss ein Ende haben.«
    Sie sah ihn an und erwiderte nichts. Er sagte: »Gott verlangt von dir, dass du zu Bruder Hummelman zurückkehrst.«
    »Ach«, sagte sie, »und was ist mit meinem Sohn?«
    »Bruder Hummelman hat mir versichert, dass er wie ein Vater für ihn sorgen wird.«
    »Tja, aber mein Sohn liebt seinen eigenen Vater über alles.«
    »Dein Sohn kann seinen Vater, sooft er will, besuchen.«
    »Mein Sohn möchte aber nicht von seinem Vater getrennt werden.«
    »Dann kehrst du allein, ohne Sohn, zurück zu Bruder Hummelman.«
    »Ach, Sie wollen Mutter und Sohn auseinanderreißen, sehe ich das richtig?«
    »Schwester, Gott fordert ein Opfer von dir.«
    »Ich glaub, ich hör nicht recht!«
    »Gott sagt …«
    »Nein, Sie sagen …«
    »Im Namen Gottes.«
    »Darüber lässt sich streiten. Woher wissen Sie so

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