Unter dem Deich
Frau Pastor, bin ich für Sie auch nicht gut genug? Sind diese Arbeiterhände für Sie etwa auch zu derb?«
Er legte seine großen, wettergegerbten Hände mit weit gespreizten Fingern auf den Tisch. Seine Finger krümmten sich und versanken im Flor der Tischdecke. Seine Knöchel wurden weiß. Die Tischdecke verschob sich langsam.
»Sie haben so feine Manieren«, sagte er zu Maud, »Sie sind ganz anders erzogen worden als wir. Würden Sie behaupten, dass wir Grobiane sind? Würden Sie das behaupten?«
»Aber nicht doch, auf gar keinen Fall«, sagte Maud.
»Ah, das ist gut, denn ich kann es gar nicht leiden, wenn hier, in meinem eigenen Haus, Leute auftauchen, die sich für zu gut halten, um mit Leuten von unserm Schlag zu verkehren. Ich kann Ihnen sagen, Frau Pastor, dass ich, wenn ich auf dem Deich steh und das Gras mähe, oft genug eine leckere Tasse Kaffee von den Leuten angeboten kriege, die unterm Deich wohnen. Aber glauben Sie nicht, dass ich jemals, selbst wenn ich vor Kälte fast verreckt bin, von jemandem von überm Deich eine Tasse Kaffee bekommen hätte. Wieso sind wir nicht gut genug, um einen Kaffee von diesen ganzen Damen zu bekommen, die …«
»Achten Sie nicht auf meinen Mann«, sagte ihre Mutter, »der hat in letzter Zeit ständig schlechte Laune. Früher war er immer so ausgeglichen!«
»Schlechte Laune? Ich? Weil ich erzähle, dass man unterm Deich gut behandelt wird, während sich überm Deich kein Aas um einen kümmert? Soll ich Ihnen mal was sagen, Frau Pastor. Es wird immer behauptet, die Leute von der sozialdemokratischen Partei, die würden sich für Leute wie uns einsetzen, ich kann Ihnen aber sagen, hier unterm Deich wohnt nicht ein einziger Sozialist. Die ganze Bande wohnt überm Deich, Stadtverordneter Smit vornweg. Die machen keinen Finger für uns krumm und haben das auch noch nie getan. Die haben nicht den blassesten Schimmer, was die Menschen hier unten bewegt, diese feinen Pinkel. Wenn die dir entgegenkommen, schauen sie dich nicht mal mit dem Rücken an.«
»Mann«, sagte ihre Mutter mit bedrohlicher Bassstimme.
»Ach, muss ich jetzt wieder meinen Mund halten?«
Beleidigt starrte er vor sich hin. Er nahm das Päckchen Tabak vom Kaminsims. Sie sah, wie seine Finger zitterten, als er ein Zigarettenpapier herauszog. Sie dachte: »Wir müssen hier so schnell wie möglich weg.«
Während er sich eine Zigarette drehte, sagte ihr Vater: »Es ist bestimmt nicht verkehrt, Frau Pastor, dass Sie sich mal mit eigenen Augen ansehen, wie eng es hier ist. Meine Frau und ich haben in diesem Haus fünf von diesen Rotznasen großgezogen. Fünf! Und das, obwohl man sich hier nicht mal umdrehen kann! Nicht mal ordentlich waschen kann man sich. Ja, und oben überm Deich, da haben die Leute Duschen, Badezimmer und Waschbecken …«
»Mann!«
»Sapperlot!«, rief er. »Jetzt lass mich ein einziges Mal aussprechen, was mir auf dem Herzen liegt.«
Sie stand auf und sagte: »Wir müssen dann mal wieder.«
»Wir haben noch nichts vereinbart«, meinte Maud.
»Das machen wir später schon noch«, sagte sie.
Draußen war der Nebel sehr viel dichter geworden. Als sie die Deichtreppe hinaufstieg, bemerkte sie, dass die Dunstschwaden oben über dem Deich längst nicht so dicht waren. Sie drehte sich um, und es war, als hätte sich eine Wolke auf das Sanierungsgebiet gesenkt. Maud sagte: »Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, nicht den richtigen Ton für das Gespräch zu finden. Deine Mutter hat mich unbeirrbar ›Frau Pastor‹ genannt. Und dein Vater, was für ein …«
»Ekel?«
»O, nein, das wollte ich nicht sagen.«
»Ich sag’s aber.«
»Du findest, dass dein eigener Vater ein Ekel ist?«
»Ich grusele mich vor ihm. Hast du gesehen, wie er seine Finger in die Tischdecke gekrallt hat? Als hätte er sie erwürgen wollen! Ich habe Angst vor ihm.«
»So einen Mann habe ich noch nie getroffen. Na ja, gesehen natürlich schon, aber nie reden gehört. Nein, wirklich, ich habe noch nie jemanden so reden hören. Unglaublich, dass es solche Menschen tatsächlich gibt!«
»Und stell dir vor, du hast so jemanden zum Vater«, sagte sie.
»Aber deine Mutter ist nett«, sagte Maud. »Allerdings glaube ich nicht, dass sie für uns arbeiten will. Wie hätte ich vorgehen sollen? Was hätte ich sagen müssen?«
»Jedenfalls hättest du nicht von Geld reden dürfen.«
»Nicht?«
»Ganz bestimmt nicht. Aber sie wird noch einlenken, dafür sorg ich schon.«
»Und wenn nicht, dann nähen wir
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