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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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erledigte, zu größerer Höflichkeit veranlasste, als sie bisher von ihnen hatte erwarten können. »Kleider machen die Frau«, dachte sie.
    Eines Septemberabends ging sie durch den Hafen zur Wip. Die tief stehende Sonne tauchte die Fassaden an der Stadhuiskade in eine goldene Glut. Sie sah, wie ihr eigener enorm langer Schatten sich auf dem schräg abfallenden Pier fortbewegte. War sie das, die dort ging? Sie stieg die Wip hinunter, ging den Zuidvliet entlang, überquerte das Sluispolderhofje und gelangte in das Viertel, aus dem sie stammte. Auf Küchenstühlen saßen die Bewohner der Sandelijnstraat vor ihren Haustüren. Sie ging an den Stühlen vorbei, wurde gegrüßt und grüßte zurück.
    »Guten Abend, Nachbar, wie geht es den Kanarienvögeln?«
    »Alles bestens«, sagte er.
    Mit ihrem Universalschlüssel öffnete sie die Tür des Elternhauses und trat in die Wohnstube.
    »Ach«, sagte ihre Mutter schnippisch, »du hier? Wusstest du noch, wo wir wohnen?«
    Dann blickte ihre Mutter von hinter der pedalgetriebenen Nähmaschine auf, sah die hohen Absätze und das Chanel-Kostüm, sah die langen Fingernägel, die sie sich auf Befehl von Maud hatte wachsen lassen.
    »Schert sich um nichts!«, sagte ihre Mutter grimmig. »Was für Krallen!«
    »Nicht gut?«, fragte sie.
    »Nix für mich.«
    »Aber du müsstest dich«, sagte sie, in die Sprache ihrer Jugend zurückfallend, »ganz schön abrackern, wenn du dieses Kostüm nachnähen wolltest.«
    »Spinnst du? Mach ich mit geschlossenen Augen.«
    »Das kannst du wem anders erzählen.«
    »Wenn du mir den Stoff … Was ist das überhaupt für Stoff?«
    »Tweed.«
    »Stoff für Herrenanzüge. Na ja, jeder, wie er will, aber wenn du mir ein paar Meter von dem Stoff gibst, mach ich dir eins in … lass mal fühlen … in drei Tagen.«
    »Glaub ich dir nicht.«
    »Bring mir morgen ein paar Meter von dem Stoff. Kannst du bei van der Vlist in der Nieuwstraat kaufen.«
    Sie sah, dass ihr Vater, der im Innenhof die Hühnerställe sauber machte, sich die Hände an der Cordhose abwischte. Durch die Küche kam er in die Wohnstube.
    »Deine Tochter«, sagte ihre Mutter und deutete mit der rechten Hand, die von einem Stofflappen bedeckt war, auf sie. Dadurch rutschte der Lappen bedrohlich in die Höhe. Sie sah, wie ihr Vater sie betrachtete, musterte, prüfte. In seinen Augen bemerkte sie ein kurzes Leuchten, als sein Blick auf ihre lackierten Nägel fiel.
    »Zehennägel auch?«, fragte er.
    »Mann«, sagte ihre Mutter mit tiefer Stimme.
    Ihr Vater nahm Platz. Ihre Mutter erhob sich, befühlte den Stoff des Kostüms und bat sie, die Jacke auszuziehen.
    »Wenn ich mich an die Arbeit mache, muss ich es danebenliegen haben.«
    Das war ein Opfer, das sie, tags darauf, nur mühsam erbrachte. Trotzdem trug sie das Kostüm und ein großes Stück blauen Tweeds in die Sandelijnstraaat. In der Woche danach hatte sie zwei Kostüme. Als sie das neue anprobierte, sagte sie: »Fast das Gleiche, aber nicht ganz.«
    Sie sah die Nadeln zwischen den Lippen ihrer Mutter einen Kriegstanz aufführen.
    »Nicht gut?«, fragte ihre Mutter.
    »Sehr gut«, sagte sie, »phantastisch, aber nicht hundert Prozent gleich, guck mal, die Naht hier, die verläuft ein klein bisschen anders, und das Futter ist etwas höher eingesetzt.«
    »Sieht keiner«, sagte ihre Mutter.
    »Aber dadurch fällt der Stoff anders.«
    Sie wusste, dass sie hoch pokerte, aber sie wusste auch, dass sie, wenn sie fragen würde, ob ihre Mutter noch ein solches Kostüm nähen könnte, zur Antwort bekäme: »Zeit wächst mir nicht auf dem Rücken, ich hab noch was anderes zu tun.« Ebenso hätte sie sagen können: »Ich würde dich gut dafür bezahlen, wenn du mir noch so ein Kostüm machst.« Dann hätte ihre Mutter geantwortet: »Ich nehm kein Geld von meiner Tochter.« Sie dachte: »Meine Mutter weiß genau wie ich, dass wir ein Spiel spielen. Warum muss das so sein? Warum könnte sie um keinen Preis zugeben, dass sie, um mir eine Freude zu machen, noch ein Kostüm nähen würde?«
    Ihre Mutter sagte: »Bring mir noch so ein Stoffstück, ich hab’s jetzt in den Fingern, in null Komma nichts hab ich noch eins gemacht.«
    Als sie in ihrem dritten Kostüm – sie war sich recht sicher, dass sie, wenn sie ihre Mutter nur geschickt genug manipulierte, noch ein viertes bekommen könnte – durch den Hafen ging, dachte sie: »Wenn meine Mutter in Paris geboren wäre und die richtige Ausbildung bekommen hätte, hätte sie dann eine zweite

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