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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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Kommode und dem Kaminsims standen. Sie betrachtete die Mühle, die auf dem kleinen Wandteppich am Kamin hing. Sie betrachtete das Messingeimerchen, das vor dem kleinen Wandspiegel hin- und herschaukelte. Der Anblick all dieser Gegenstände war ihr schon seit frühester Jugend vertraut, aber erst jetzt hatte sie das Gefühl, sie wirklich wahrzunehmen, jetzt, da sie das Bedürfnis hatte, sich für die Anwesenheit jeder Einzelnen dieser Nippsachen zu entschuldigen. »Den Holzschuh hat mein Vater bekommen, als er fünfundzwanzig Jahre bei der Gemeinde beschäftigt war. Und die bescheuerte Mühle, die hat mein Onkel gebastelt, der gerne Laubsägearbeiten macht. Und der kleine Messingeimer – das ist ein Erbstück.« Sie sah Maud kurz an, sah ihre Augen und dachte: »Mene, mene, tekel, u-parsin.« Sie schaute auf das weiße Häkeldeckchen auf dem Fernseher und auf das Messingkännchen, das darauf stand. Erst da bemerkte sie ihren Vater, der am Fenster saß. Er schlürfte genussvoll an seinem Kaffee.
    Ihre Mutter zischte leise: »Mann, zieh dir gefälligst Schuhe an und kämm dich mal.«
    Ihr Vater stand auf. Seine Cordhose rutschte etwas. Er packte sie beim Bund. Sie sah hin und wusste, dass Maud es auch sah. Ihr Magen zog sich zusammen.
    »Möchten Sie einen Kaffee haben, Frau Pastor?«, fragte ihre Mutter untertänig.
    »Ja, gerne«, erwiderte Maud, »und ich heiße übrigens Maud.«
    »Ich weiß, Frau Pastor.«
    Ihr Vater schlurfte zum Zimmer hinaus, seine Hose mit beiden Händen haltend. Ihre Mutter ging in die Küche, kehrte mit einer Tasse Kaffee zurück und fragte: »Möchten Sie Milch und Zucker, Frau Pastor?«
    »Nein, danke, ich trinke meinen Kaffee immer schwarz.«
    Sie dachte: »Ob es hier unter dem Deich überhaupt jemanden gibt, der seinen Kaffee schwarz trinkt?«
    »Ien hat Ihnen bestimmt schon gesagt, weswegen wir heute Abend gekommen sind«, sagte Maud.
    »Ja, Frau Pastor, wenn ich’s richtig verstanden habe, wollen Sie mit unserer Clazien zusammen ein Geschäft aufmachen, und Sie wollen mich bitten, dies und das für sie zu nähen.«
    »Genau.«
    »Wird von mir erwartet, dass ich neue Kleider nähe?«
    »Eventuell.«
    »Solche Flattersachen, wie sie heute getragen werden?«
    »Wir haben vor allem an schöne Kleider gedacht, wie zum Beispiel das Kostüm, das Sie für Ien genäht haben.«
    »Glauben Sie denn, dass hier Nachfrage nach so etwas besteht?«
    »Davon bin ich überzeugt.«
    »Aber wer soll derartige Kostüme tragen, Frau Pastor? Hier unterm Deich gibt es keinen, der damit zur Kirche gehen würde. Nicht weil diese Kostüme nicht schön wären, aber das ist einfach nicht der Stil von Leuten wie uns, müssen Sie wissen. Und über dem Deich – glauben Sie, über dem Deich gäbe es Frauen, die etwas kaufen würden, was unterm Deich genäht worden ist?«
    »Aber das braucht doch niemand zu wissen, dass Sie für uns …«
    »Wenn wir es für uns behalten, werden es die Spatzen von den Dächern pfeifen, Frau Pastor.«
    »Sie glauben also …«
    »Das weiß ich ganz bestimmt.«
    »Ich würde es dennoch wagen. Wir können es ja einfach ausprobieren. Sie nähen, wir bezahlen Sie, Sie gehen also kein Risiko ein.«
    Sie sah, wie ihre Mutter, erschrocken über das Wort »bezahlen«, die Augen niederschlug. Ihr Blick wanderte zu den ruhelosen Händen ihrer Mutter, und sie dachte: »Wir sollten jetzt besser gehen.«
    Ihr Vater kam ins Zimmer zurück. Er trug jetzt Schuhe und Hosenträger, sein Haar war nass und hatte einen schnurgeraden Scheitel. Sie sah die Schuppen. Er sagte, als wollte er darauf aufmerksam machen, dass seine Hose nicht mehr rutschte: »Tja, ja, mit einem munteren Herzen und guten Hosenträgern kommt man schon durchs Leben.«
    Es herrschte Schweigen im Zimmer, er schien auf eine Reaktion zu warten. Als die ausblieb, fragte er: »Na? Wie läuft’s? Ja, Frau Pastor, es gibt auf der ganzen Welt keine bessere Näherin als Clazien ihre Mutter. Was die in ihrem Leben schon alles zusammengenäht hat! Kostüme, Kleider, Röcke, Hosen, man könnte Kirchen damit füllen.«
    »Vater, bitte«, sagte sie zu ihm.
    »Hab ich was Falsches gesagt?«, fragte er. »Passt es dir wieder nicht, was ich sage? Bin ich wieder nicht gut genug?«
    »Vater, nicht«, bat sie.
    »Ich würd’ gern mal wissen«, sagte ihr Vater zu Maud, »warum meine eigene Tochter sich immer für ihren Vater schämen muss. Warum bin ich nicht gut genug? Weil ich wochentags eine Mütze trage und auf Holzschuhen rumlaufe? Sagen Sie,

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