Unter dem Eis
tun würden. Stattdessen übergibt sie sich mit allen Sinnen dem Haus, lässt sich von ihm leiten, seinen Gerüchen und Geräuschen, vor allem aber von alldem, was zu fehlen oder nicht zu passen scheint.
Das Parterre besteht aus Küche, Wirtschaftsraum, Gäste-WC, Ess- und Wohnzimmer, Eingangshalle und dem Büro von Charlottes Vater. Ohne Zweifel ist dies der freundlichste Raum, obwohl hohe Bücherregale mit Fachliteratur zwei der Wände verdunkeln. Vor dieser Regalfront bilden zwei dunkelgrüne Ledersessel und ein poliertes Mahagonitischchen das perfekte Ambiente für Fachsimpeleien oder eine Partie Schach. An der dritten Wand hängen Fotografien, Gemälde und Radierungen von Tieren, Pflanzen und Landschaften. Die Qualität der Bilder variiert erheblich, einige Fotos sind stark verblichen und zeigen Männer mit Rucksäcken und Kniebundhosen, die mit Eroberermienen in die Kamera blicken. Irgendetwas an der Bilderwand ist irritierend. Judith bleibt stehen und betrachtet die Bilder, analytisch, konzentriert, eines nach dem anderen. Etwas ist falsch an der Bilderwand, sie kann das fühlen, aber sie vermag nicht zu sagen, was.
Im Obergeschoss durchquert sie das weiße Zimmer mit den glasäugigen Kindheitsreminiszenzen. Charlottes zweites Zimmer liegt dahinten hellblau gestrichen. Ein schmales Bett mit mädchenhaft geblümtem Bezug, ein weißlackierter Schrank, ein Schaukelstuhl und ein Nachttisch sind die einzigen Möbel. Über dem Bett ist mit Nadeln das Kitschposter eines pastellfarbigen Sonnenuntergangs an die Tapete geheftet. Dies ist nicht das Zimmer einer erwachsenen Frau.
Nebenan befinden sich Bad, Gästezimmer und ein großer Raum mit Schrankwand, der wirkt wie das klassische Elternschlafzimmer. Doch statt des Doppelbetts steht ein Krankenhausbett an der Wand, auf dem Boden liegt kein Teppich, sondern Linoleum, und der Geruch nach Desinfektionsmittel ist überwältigend.
Charlotte hatte Biologie studiert, wie ihr Vater, und sogar mit einer Promotion begonnen, hat Berthold erzählt. Verhaltensforschung, irgendwas mit Ratten. Doch dann bekam Charlottes Mutter Brustkrebs und erholte sich nicht wieder. Sieben Jahre hatte Charlotte sie gepflegt, und kaum war die Mutter gestorben, erkrankte der Vater. Judith untersucht das Bett, seine makellosen, weißen Laken. Sie versucht sich Charlottes Leben vorzustellen: eine Existenz zwischen Kinderzimmer und Bettpfanne, die eigene Karriere ist ins Unerreichbare entglitten. Hoffnung bedeutet, dass die Eltern sterben. Es kann nicht sein, denkt sie. Egal was Charlotte gesagt oder getan hat, sie muss gelitten haben, sie muss Aggressionen gehabt haben. Und Träume. Niemand lebt ohne Träume.
Doch wovon auch immer Charlotte geträumt haben mag – nach mehreren Stunden intensiver Suche in den Schränken, Schubladen und Nischen des Obergeschosses hat Judith immer noch keinen Hinweis gefunden. Noch einmal betrachtet sie Charlottes Puppen, Gralshüter mit staubigen Wimpern, aber die Schubladen der Kommode, auf der sie sitzen, sind leer. Judith geht hinunter in die Küche und wäscht sich Hände und Gesicht. Sie trinkt zwei Gläser Leitungswasser, füllt das Glas erneut und nimmt es mit auf die Terrasse. Entfernter Verkehrslärm von der Rheinuferstraße schwebt in der Luft, ein leises, konstantes Sirren. Komm, lass uns was mit den Puppen spielen, hatte die 14 -jährige Charlotte gesagt. Hanni und Nanni, Dolly im Internat, ich hab genug Puppen für eine ganze Schulklasse, komm Judith, das macht Spaß. Aber Judith hatte sich nichts aus der unerbittlich fröhlichen und geordneten Welt Enid Blytons gemacht.
Sie geht zurück ins Haus und einen Moment lang erscheint ihr die Schulkameradin zum Greifen nahe: ein hoch gewachsenes Mädchen mit chronisch gekrümmten Schultern, das sich zu oft entschuldigt. Was war Charlottes Traum? Wieder betrachtet Judith die Bilderwand im Arbeitszimmer, kann aber immer noch nicht sagen, was sie daran irritiert.
Im Schreibtisch findet sie Büromaterial sowie Aktenordner mit Kontoauszügen, Versicherungspolicen und wissenschaftlichen Korrespondenzen des Professors. Geldsorgen hatte Charlotte offenbar nicht, auf ihr Konto fließt regelmäßig eine beachtliche Summe aus einem Anlagefonds, die laufenden Kosten – auch der Lohn des Gärtners – werden per Dauerauftrag beglichen, ein Perpetuum mobile, das Charlottes Anwesenheit nicht erfordert. Judith kniet sich auf den Perserteppich und blättert durch die Briefe. Fachsimpeleien, höfliches Geplänkel,
Weitere Kostenlose Bücher