Unter dem Eis
nichts Aufregendes, nichts Persönliches. Judith streckt die Hand aus und betastet die Rückwand des Schreibtischfachs hinter den Ordnern. Dort liegt etwas. Sie greift zu und zieht die Gegenstände hervor: zwei gerahmte Fotografien. Eine ist die Nahaufnahme eines fetten Fliegenpilzes, die andere zeigt eine etwa 25 -jährige Charlotte mit verwehtem blondem Haar auf einer Bergwiese. An ihrer Seite steht ein älterer Mann in Kniebundhose, der ihr Vater sein muss, denn die Ähnlichkeit seiner Kinn- und Augenpartie mit der von Charlotte ist unübersehbar, auch wenn das Glas gesprungen ist.
Die Fotos in den Händen, richtet Judith sich auf und betrachtet die Bilderwand erneut. Jetzt sieht sie es. In der Mitte hängt ein Vogelbild, wie hineingequetscht in eine zu kleine Lücke. Es ist ein Ölgemälde in einem schlichten blau gebeizten Holzrahmen. Der Vogel scheint am Ufer eines Sees zu brüten, sein schwarzer Schnabel sticht aus seinem schwarzen Kopf, sein Rückengefieder trägt weiße Tupfer, die wie aufgemalte Karos wirken, die Brust ist weiß. Am irritierendsten ist sein Auge. Kreisrund und rubinrot glimmt es Judith an. Als ob das Innere des Vogelkopfs aus Lava bestünde.
Aus einem Impuls heraus hält Judith die beiden Bilderrahmen vor das Gemälde. Sie sind deutlich kleiner. Sie hebt das Gemälde von der Wand. Treffer! In der Lücke, die es an der Wand hinterlässt, zeichnen sich deutlich die Umrisse zweier kleinerer Bilderrahmen ab, die beiden Bilder aus dem Schreibtisch passen exakt hinein. Judith dreht das Vogelbild herum. »Gavia immer – Eistaucher – Stimme der Wildnis – 5 / 2003 «, hat jemand auf die Rückseite der Leinwand geschrieben. Auch der Stempel eines Kunstateliers in der Südstadt ist zu erkennen. Judith wählt die Nummer, erreicht aber nur einen Anrufbeantworter.
Später trifft sie bei den Platanen im Römerpark den Rechtsmediziner Karl-Heinz Müller. Die Sommerluft liegt jetzt wie Samt auf ihrer Haut, der Himmel über ihnen verblasst, der Rotwein, den Karl-Heinz Müller mitgebracht hat, schmeckt nach Beeren und Rauch. Sie bewegen sich langsam, reden nicht viel, ein eingespieltes Team. Sie polieren die Boulekugeln, und das glatte Metall schmiegt sich warm in ihre Hände. Sie werfen die Kugeln mit trägen, fließenden Bewegungen. Sie rauchen und trinken den Wein. Als es dunkel wird, teilen sie sich im Volksgarten eine Pizza. In den Kastanien über ihnen hängen Lautsprecherboxen, aber heute Abend stört Judith das Gedudel nicht, weil sie einen Platz am Wasser ergattert haben, weil die Lichterketten aus den Kastanien zu ihren Füßen schwimmen, weil die Stimmen der anderen Gäste sie einhüllen und die Luft immer noch tropisch ist.
In ihrer Dachwohnung steht noch die Hitze des Tages, das Thermometer im Badezimmer zeigt 38 Grad. Sie macht sich auf der Dachterrasse ein Lager aus Decken und Matten. Das Letzte, was Judith vor dem Einschlafen wahrnimmt, sind die unsteten Flugmanöver der Fledermäuse und das fiebrige Summen der Stadt, die nicht zur Ruhe kommt.
Das Klingeln reißt Elisabeth Vogt aus einer an Apathie grenzenden Erschöpfung. Sie braucht lange, um sich vom Küchensofa hochzustemmen und ins Wohnzimmer zu schleppen, wo der Telefonapparat immer weiter nach ihr schreit. Kurz vor acht, kurz vor der Tagesschau, Carmen will wissen, ob sie noch lebt. Jeden Abend um kurz vor acht Uhr ruft sie deshalb an. In ihrer Eile, das Telefon zu erreichen, prallt Elisabeth mit der Hüfte an die Anrichte. Tränen schießen ihr in die Augen,das wird einen feinen Bluterguss geben, sie presst die Handfläche auf die schmerzende Stelle. Ihre Hand fühlt sich kühl an durch den Stoff ihres Kleides, dabei hat sie heute wahrlich genug geschwitzt und auch jetzt klebt die Schwüle des Tages in den abgedunkelten Räumen. Sie hebt den Hörer von der Gabel.
»Vogt, ja bitte.«
»Du klingst so komisch, Mutter. Geht’s dir nicht gut?«
»Ich bin nur eingedöst.« Elisabeth hört selbst, wie heiser und gepresst ihre Stimme klingt. Aber so darf das nicht sein, so führt das nur geradewegs in eine erneute Diskussion darüber, wann sie endlich Vernunft annimmt, Barabbas weggibt und das Haus, in dem sie 43 Jahre lang mit ihrem geliebten Mann gelebt hat, verkauft.
»Irgendetwas stimmt doch nicht. Was ist mit dir, Mutter?« Mutter ist so ein hartes Wort, wenn ihre Tochter die Konsonanten abfeuert, als wollte sie Elisabeths Herz treffen.
»Alles ist in Ordnung, mir geht es gut«, antwortet Elisabeth mühsam.
»Du
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