Unter dem Eis
bestimmt gar nicht bemerken. « Frank Stadler hat die Taschenlampe jetzt erobert und betrachtet sie, bevor er sie vor Manni auf den Tisch stellt.
»Kaputt«, flüstert Martina. »Kaputt. Er hat doch Angst ohne seine Taschenlampe. Warum hast du ihn denn nicht an seine Taschenlampe erinnert?«
»Mensch, Tina, du weißt doch, wie es ist. Die Kleinen haben gequengelt, wir waren spät dran, und Jonny hat geschworen, dass er alles hat.«
»Wann genau war das?«, fragt Manni.
»Was meinen Sie?« Stadler sieht ihn an, als hätte er seine Anwesenheit vorübergehend vergessen.
»Als Sie mit Jonny von hier wegfuhren. Wann war das?«
»Am Samstagvormittag, so um elf. Wir haben die beiden Kleinen zu meiner Mutter nach Bensberg gebracht und sind dann direkt ins Zeltlager gefahren.«
Manni blättert in dem Block, den er der Bedienung im Maybach abgeluchst hat. »Und das Zeltlager war am Rande des Königsforsts, auf dem Gelände eines Clubs, der sich Kölsche Sioux nennt.«
Stadler nickt. »Ja, verdammt. Warum sind da eigentlich nicht längst Suchtrupps im Einsatz?«
»Erst einmal müssen wir uns ein Bild von der Lage verschaffen. Wann haben Sie Jonny zum letzten Mal gesehen?«
Martina Stadler beginnt jetzt, noch heftiger zu weinen.
»Hören Sie«, Manni versucht, Frank Stadlers Aufmerksamkeit zu erlangen, »bitte beantworten Sie meine Frage. Und vielleicht wäre es gut, wenn Ihr Hausarzt…«
»Jonnys Taschenlampe ist kaputt. Ich habe sie kaputtgemacht! Mein Gott, ich halte das nicht aus!« Martinas Stimme kippt.
»Sag das nicht.« Frank Stadler streichelt die schlanken Finger, die jetzt hölzern und nutzlos wirken, wie die einer Marionette ohne Fäden. »Bitte, Martina, nichts ist kaputt. Und Jonny hat immer noch Dr. D.«
»Wer ist …« Weiter kommt Manni nicht, denn als sei das letzte D ein Einsatzkommando, stürzen die Rotznasen unter ohrenbetäubendem Geheul in die Küche. »Dee-Dee! Jonny! Dee-Dee! Jonny! Wo ist Dee-Dee?«
Bevor einer der Erwachsenen reagieren kann, krabbeln sie bereits auf die Eckbank und rammen ihrer Mutter die schmierigen Gesichter in Brust und Bauch. Mechanisch beginnt sie, die verstrubbelten Hinterköpfe zu streicheln und beruhigenden Nonsens zu murmeln.
Frank Stadler steht auf und bedeutet Manni mit einer Kopfbewegung, ihm zu folgen. Offenbar hat er es nun aufgegeben, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Ein feines Rinnsal kriecht an seinem Ohr vorbei Richtung Kinn. Aus dem Wohnzimmer trällert eine penetrante Kinderstimme ein Liedchen von einem Krokodil namens Schnappi. Manni hat das unbehagliche Gefühl, dass ihm in diesem Haus die Luft knapp wird.
»Ich weiß nicht, wann Jonny verschwunden ist«, sagt Stadler leise. »Die Kids leben im Lager nach ihren eigenen Regeln.«
Abrupt dreht er sich um. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen Jonnys Zimmer.«
Beinahe sieht es so aus, als würde Stadler vor ihm fliehen. Manni ignoriert sein Bedürfnis nach Sauerstoff und heftet sich an seine Fersen.
»Wer ist Dr. D.?«, wiederholt er, als sie das Kellergeschoss erreicht haben.
Frank Stadler öffnet die Tür zu einem Souterrainzimmer und starrt auf ein Hundekörbchen, das neben einem ordentlich mit dunkelblauer Bettwäsche bezogenen Bett steht.
»Dee-Dee, Dr. D., ist Jonnys Hund, ein Rauhaardackel. Die beiden sind unzertrennlich.«
Es ist, als ob die gedämpfte Stille in Charlottes Villa die Wut, die Judith eben noch empfunden hat, verschlucken würde. Die Wärme, die allmählich durch die geöffneten Fenster ins Haus kriecht, die Möbel, die aussehen, als sei die Zeit vor einigen Jahrzehnten stehen geblieben, und die Erinnerungen an Charlotte verleihen ihr ein Gefühl von Unwirklichkeit. Sie berührt noch nichts, verändert nichts, aber all ihre Sinne sind hellwach. Eine Hausdurchsuchung ist die schrittweise Entschlüsselung eines fremden Mikrokosmos. Jedes Zuhause hütet die Geheimnisse seiner Bewohner, sogar dann, wenn sie sich bemüht haben, alle Spuren, die sie als verräterisch empfinden, zu vernichten. Hat Charlotte Simonis Liebesbriefe und Kontoauszüge verbrannt, Fotoalben oder die Police der Lebensversicherung ihres Vaters, was gewisse Fragen im Hinblick auf seine Todesursache nahe legen würde? Hat sie aufgeräumt, wo zuvor Chaos herrschte? Ich weiß es nicht, denkt Judith, während sie sich von Raum zu Raum bewegt. Dieser erste stille Rundgang ist ihr persönliches Auftaktritual zu einer Durchsuchung. Sie geht nicht systematisch vor, wie es die Kollegen von der Spurensicherung
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