Unter dem Eis
hast wieder nicht genug getrunken.« Jetzt ist die Resignation in Carmens Stimme gekrochen. Elisabeth überlegt, was passieren würde, wenn sie ihrer Tochter eine ehrliche Antwort gäbe. Heute Morgen hat Barabbas einen Rauhaardackel totgebissen, könnte sie sagen. Aber mach dir keine Sorgen, das war ein Ausrutscher, das macht er nie wieder, und niemand hat es gesehen und der Hund war ein Streuner, trug noch nicht einmal ein Halsband. Ich habe Barabbas nach Hause gebracht und dann bin ich zurückgelaufen und habe den Dackel beerdigt, ich konnte ihn doch nicht dem Ungeziefer überlassen oder sogar Schlimmerem. Ich habe ihn in dem karierten Köfferchen begraben, das du als Kind mithattest, wenn wir nach Juist gefahren sind, weißt du noch? Aber mach dir keine Sorgen, ich habe tief gegraben, niemand wird ihn finden. Deshalb bin ich jetzt erschöpft.
»Sag doch was, Mutter.«
Wann hat sie aufgehört, mit ihrer Tochter reden zu wollen? Wann hat sie akzeptiert, dass Blutsverwandtschaft nicht notwendigerweise Verständnis füreinander mit sich bringt?Elisabeth räuspert sich. »Du hast Recht, ich habe heute zu wenig getrunken.«
»Du musst besser auf dich aufpassen, Mutter.«
»Ja.«
»Trink jetzt was. Und schlaf gut.«
»Du auch, Carmen.«
Sie hat tatsächlich Durst sobald sie den Hörer auflegt, fühlt sie, wie trocken ihre Kehle ist. Carmen hat Recht, immer wieder vergisst sie das Trinken. Glücklich solle sie sich schätzen, dass die Tochter sich so rührend um sie sorgt, sagen die Ärzte. Nicht alle Kinder sind so, Frau Vogt, nicht alle Kinder lieben ihre Eltern.
Aber Elisabeth fühlt sich nicht geliebt, sie fühlt sich kontrolliert. Gut, dass sie noch immer fähig ist, ein Geheimnis zu bewahren. Und das war noch nie so wichtig wie jetzt, denn schafft sie das nicht, werden sie Barabbas töten.
Der Kommissar Manfred Korzilius ist nur die Vorhut gewesen, schon bald danach sind zwei uniformierte Kollegen hinzugekommen, wie eine Hausbesetzung hat sich ihre Geschäftigkeit angefühlt. Sie wollte diese fremden Männer fortjagen, hat sie angeschrien, dass sie Jonny nicht hier finden werden, sondern im Königsforst, wo er verschwunden ist, dass sie sich beeilen müssen, weil es dunkel wird. Aber sie haben nicht auf sie gehört, haben nur immer wiederholt, dass man Schritt für Schritt vorgehen muss. Dass sie sich nicht so viele Sorgen machen soll, wahrscheinlich wird Jonny, wie die meisten vermissten Jugendlichen, morgen wieder auftauchen. Heil und unversehrt. Außerdem sei es warm, selbst wenn Jonny draußen übernachten muss, kann ihm nicht viel passieren. Und dann hat er ja auch noch seinen Hund. Wenn Jonny was passiert wäre, hätte der Dackel sicher den Weg zurück ins Lager gefunden, oder Spaziergänger hätten ihn gemeldet. Aber nichts von alldem ist geschehen, und das kann man durchaus als gutes Zeichen sehen, sagen sie. Als Zeichen dafür, dass Jonny und sein Hund momentan einfach nicht nach Hause kommen wollen.
Hauen Sie ab, lassen Sie uns in Ruhe, wenn sie unseren Jungen nicht suchen wollen, hat sie schließlich geschrien. Aber als die Polizisten sich tatsächlich verabschieden, wird ihr klar, dass das ein Fehler war, denn jetzt bricht die Verzweiflung endgültig ins Haus. Martina Stadler presst die Stirn ans Küchenfenster. Die Silhouette von Manfred Korzilius faltet sich soeben in einen Polizeiwagen, die Fenster der umliegenden Häuser sind längst dunkel, aber was heißt das schon, vermutlich stehen die Nachbarn hinter den Gardinen und beobachten, wie die grünberockten Botschafter der Katastrophe sich verabschieden. Sind betroffen und zugleich unsagbar froh, dass ihr eigenes Leben einmal mehr verschont geblieben ist.
Frank tritt hinter sie und legt ihr die Hände auf die Schultern.
»Komm ins Bett, Tina. Die Polizei hat Recht. Wir können im Moment nichts anderes für Jonny tun, als bei Kräften zu bleiben.«
»Wieso weißt du nicht, wann genau Jonny verschwunden ist?« Leise, beinahe tonlos stellt sie die Frage, die dieser blonde Kommissar Korzilius mehrfach wiederholt hat, ohne eine befriedigende Antwort darauf zu bekommen.
»Mensch, Tina, Jonny ist vierzehn, ich konnte ihn doch nicht auf Schritt und Tritt beaufsichtigen. Er kennt alle im Camp, er kennt den Wald, er ist mit Dr. D. herumgestromert wie immer, der Späher, du weißt doch, wie der ist, er braucht sein Maß an Freiraum. Und abends hatten die Kids dann eine streng geheime Versammlung, kein Zutritt für Erwachsene, ich dachte einfach,
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