Unter dem Eis
Mannis Mutter sich darüber ereiferte. Es war, soweit sich Manni erinnern kann, einer der wenigen Anlässe, bei denen Günter Korzilius seinen Sohn unterstützt hat. Sieben Uhr. Manni tastet nach dem Handy. Wann ist er eingeschlafen? Er erinnert sich nicht, irgendwann, nachdem seine Mutter aufgehört hat zu weinen. Der Schlaf hat ihn nicht erfrischt, sondern betäubt. Wie unter einer Glasglocke fühlt er sich.
»Wir haben den Jungen«, meldet Thalbach. Ohne Mannis Reaktion abzuwarten, beginnt sein Chef sofort damit, Koordinaten zu diktieren. Königsforst, Teich, tot, notiert Manni auf der Papprückseite des Pirellikalenders, als er endlich einen Kuli gefunden hat. Und dann die Wegbeschreibung.
»Die haben ein immenses Personalproblem im KK 11 «, beendet Thalbach seine Ansage. »Ferien, jede Menge Krankmeldungen und dieser Touristenmörder gibt auch keine Ruhe. Ich hab Millstätt gesagt, du kannst für ihn ermitteln, ab morgen ist dann auch die Krieger dabei.«
Unten in der Küche sitzen seine Mutter und seine Tante, und für einen Moment hat Manni die Vision, dass sie die ganzeNacht hier auf ihn gewartet haben, zwei traurige schwarze Gestalten. Stumm sehen sie zu, wie er Pflaster aus einer Schublade reißt und seine Fingerknöchel neu verklebt. Der Frühstückstisch ist für drei Personen gedeckt. Kaffee, Marmelade, Honig, Brötchen, Butter, gekochte Eier.
»Sonntagsfrühstück«, sagt seine Mutter. »Es muss ja weitergehen. Nachher wollen wir in die Kirche. Setz dich, Manni.«
Sie hat ihm keine Vorwürfe gemacht, sie hat überhaupt kaum etwas gesagt, seitdem er sie vorgestern Nacht im Krankenhaus abholte. Sie hat sich einfach an ihn geklammert und in wortloser Entschlossenheit leise vor sich hin geschluchzt. Am Morgen ist dann ihre Lieblingsschwester angereist, und nach einer Anstandsfrist hat Manni sich davongeschlichen, um die Fahndung nach Frank Stadler in die Wege zu leiten. Was sich als unnötig herausstellte, der Mann fand sich freiwillig im Präsidium ein.
Ja, gab Stadler schließlich zu, als Manni ihn mit den Zeugenaussagen der Mr Snacks und dem Kontoauszug seiner Frau konfrontierte, ja, er sei am Samstagnachmittag auf dem Autobahnrastplatz gewesen. Er habe einen Freund getroffen, einen sehr guten Freund, der in finanziellen Schwierigkeiten steckte. Das habe er nicht offenbaren wollen, den Freund schützen, deshalb sein Schweigen, das sei doch keine Straftat, nicht wahr? Jonny jedoch habe er nicht gesehen, mit seinem Verschwinden nichts zu tun, mit Drogen erst recht nichts. Ob sie sein Haus durchsuchen wollten? Vorerst nicht, hat Manni zähneknirschend erwidert und Stadler wohl oder übel laufen lassen, nachdem sein Freund dessen Aussage bestätigt hatte. Und auch die erneute Vernehmung von Indianerboss Petermann hat ihn nicht weitergebracht.
Manni setzt sich an den Frühstückstisch, rammt sein Messer in ein Brötchen, bestreicht es mit Butter, zertrümmert die Schale seines Eis, das hart gekocht ist, extra für ihn, seine Mutter mag ihres lieber weich, und diese Fürsorglichkeit macht ihn rasend, auch wenn das unfair ist. Warum kann sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen, sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern? Stumm sieht sie zu, wie er dasEi zerschneidet, das Brötchen damit belegt, salzt, die andere Brötchenhälfte draufdrückt, aufspringt und eine Flasche Orangensaft aus dem Kühlschrank nimmt. Er hat ihr im Winter verschwiegen, dass er zu den Vermisstenfahndern versetzt worden ist, sie wäre nur besorgt gewesen, und er wollte nicht riskieren, dass sie mit seinem Vater drüber redete. Jetzt kann er ihr nicht erklären, wie wichtig es ist, dass er seine Chance auf Rückkehr ins KK 11 nutzt.
»Ich muss los«, haspelt er in das Schweigen der beiden Frauen. »Ich komme, so schnell ich kann, wieder.«
Der Junge liegt am Ufer eines beliebten Angelweihers, unweit der Schutzhütte, wo er vermutlich mit ansehen musste, wie sein Dackel an einer Überdosis Ecstasy krepierte und dann verstümmelt wurde. Manni geht in die Hocke. Nasse Kleidung, die exakt der Beschreibung aus der Vermisstenanzeige entspricht. Nasses blondes Haar. Ohne Zweifel ist dies Jonny Röbel. Er wirkt merkwürdig friedlich, wenn man von einer geschwollenen Lippe und einem gelblich schimmernden Hämatom unter dem linken Auge absieht, beinahe so, als schliefe er. Keinesfalls wirkt er so, als wäre er schon seit einer Woche tot.
»Wir haben ihn sofort gesehen, als wir hier ankamen«, sagt einer der beiden Zeugen. »Er trieb
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