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Unter dem Eis

Unter dem Eis

Titel: Unter dem Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Büchern über Eistaucher gelesen. Einsame Vögel, Überbleibsel einer jahrtausendealten Zeit, niemand weiß, warum. Scheue Vögel, die Wasser brauchen, um sich zu ernähren und um zu fliegen, aber an Land kommen müssen, um ihre Art zu erhalten, auch wenn die Natur sie dafür nicht ausgestattet hat und ihre Nester am Boden Feinden aussetzt, die dort immer im Vorteil sind. Archaische Vögel, die die Einsamkeit eines kalten nördlichen Sees brauchen, denen es genügt, sich der Existenz ihrer Artgenossen durch ihren Gesang zu versichern, den der Wind von einem See zum anderen trägt.
    Gavia. Vier Arten gibt es, das Hauptverbreitungsgebiet der größten, gavia immer, die im Deutschen Eistaucher heißen, ist das nördliche Amerika. Eistaucher – vielleicht war es ja zuerst dieser Name, der Charlotte faszinierte, die Vorstellung eines Lebens im Verborgenen, in einer anderen Welt tief unten am Grund kalter Seen, unter dem Eis. Aber existieren können die Eistaucher unter dem Eis nicht, weil sie nicht nur Wasser brauchen, sondern irgendwann auch Luft zum Atmen.
    Seltsame Vögel, denkt Judith. Einsam, scheu, von der Evolution vergessen, wenn man so will. Vielleicht hat Charlotte sich ja auch so gefühlt. Immer und überall fremd – in der Schule, in der Uni, in ihrem Haus, in dem es Platz für ihre Puppen und ihre Eltern gab, nicht aber für sie. Aber was ist dann hier in der Wildnis passiert? Hat sie da erkennen müssen, dass sie wieder nicht dazugehört, ist das der Grund, warum sie jetzt tot ist? Welche Rolle hat David Becker dabei gespielt? Und welche Terence Atkinson? Ohne Atkinson wäre Charlotte nicht nach Kanada gereist. Sie hat ihn geliebt und vermutlich deshalb die Erforschung der Eistaucher zu ihrem Traum gemacht. Hat Atkinson Charlotte getötet? David Becker? Und warum hat sie nie gekämpft? Oder hat sie gekämpft und trotzdem verloren wie ein Eistaucher, der den Menschen zu nahe kommt und am Ende an einer Angelschnur erstickt oder auf der Flucht in einem halbgefrorenen See die Orientierung verliert und unter dem Eis, dessen Kälte er nicht spüren kann, erstickt?
    Verdammt noch mal, jetzt werde ich auch noch pathetisch, denkt Judith, ich fange an zu phantasieren, anstatt mich auf die Fakten zu konzentrieren. Sie lässt Charlottes Lager hinter sich, ohne noch einmal an Land zu gehen. Gestern hat sie es noch einmal sorgfältig abgesucht, mehr ist ohne Kriminaltechniker nicht zu machen. Sie kann an diesem Ort nichts mehr tun, nicht für Charlotte und auch nicht für sich selbst. Irgendwie komme ich hier wieder weg, verspricht sie ihrer alten Schulfreundin stumm. Dann werde ich Becker und Atkinson finden, und auch wenn ich die Ermittlungen hier unmöglich leiten kann, werde ich nicht lockerlassen, bis ich weiß, was mit dir geschehen ist. Diesmal lasse ich dich nicht im Stich. Sie paddelt am Lager vorbei, lenkt das Kanu zurück zu Davids Blockhütte. Vielleicht hat sie dort irgendetwas übersehen, etwas, was ihr helfen kann.
    Kurze Zeit später gewinnt die Sonne an Kraft, löst die Wolken auf und verschleiert die Oberfläche des Sees mit goldenem Nebel. Es ist unsagbar schön, auf eine kalte Art. Eine erhabene, sich selbst genügende Schönheit, die nichts Tröstliches hat.
    Die Hütte liegt genauso da, wie Judith sie verlassen hat. Sie durchsucht sie einmal mehr, akribisch, verbissen, zunehmend wütend und wieder völlig ergebnislos. Vor einer Stunde hat ihr Flugzeug nach Deutschland abgehoben. Die wirklich allerletzte Chance, einigermaßen pünktlich im Präsidium zu sein, ist ein Flug nach Düsseldorf, um 18.30 Uhr ab Toronto. Noch zehn Stunden sind es bis dahin. Viel zu wenig Zeit.
    Ruhelosigkeit und Wut treiben sie aus der Hütte zurück auf den Steg. Sie erreicht sein Ende, blickt zurück. Ein paar hundert Meter hinter der Hütte steigt das Gelände leicht an, warum fällt ihr das erst heute auf? Judith schiebt ihr Handy in die Hosentasche, versichert sich, dass das Gewehr geladen ist, hängt es über die Schulter. Der Wald ist dicht, Unterholz reißt an ihrer Hose, die nass und schwer an ihrem Körper klebt.
    Mühsam bahnt Judith sich ihren Weg. Schon nach fünf Minuten vermag sie nicht mehr zu sagen, ob sie sich in gerader Linie von der Hütte fortbewegt oder in einem sinnlosen Bogen zurück zum Ufer. Sie stoppt immer wieder, knicktZweige um, mustert das Display ihres Handys, registriert mit Befriedigung, dass das Gelände tatsächlich zu steigen beginnt. Dann, wie ein Wunder, eine sumpfige Lichtung

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