Unter dem Eis
knochenweiße Felsen; dort, wo das Wasser an ihnen leckt, sind sie rötlich verfärbt. Geäst ragt aus dem Wasser, von Wind und Wetter entrindet, gebleicht und ineinander verschlungen, ähnelt es einem chinesischen Phantasiedrachen, der die Insel bewacht. Judith macht das Kanu fest und ist sich sofort sicher, dass dies Charlottes Insel ist, ihre Präsenz scheint beinahe greifbar zu sein. Ich fühle es,denkt Judith, Charlotte war hier. Aber im nächsten Moment denkt sie an David und wohin ihr Gefühl bei ihm sie gebracht hat, nämlich geradewegs ins Aus. Gut, dass Manni nicht hier ist, der würde sich schlapplachen über sie. Sie hängt das Jagdgewehr über die Schulter, steigt aus dem Kanu und erklimmt das felsige Ufer. Die Insel ist nicht sehr groß, vielleicht 200 bis 300 Meter lang. Judith kommt nur langsam vorwärts. Sobald sie die Uferzone verlässt, stehen die Bäume dicht an dicht. Die knotigen Wurzeln krallen sich in den Boden, ein stummes Ringen von Pflanze und Fels, ein Ringen um die schiere Existenz.
Draußen auf dem Wasser schwimmt jetzt ein Eistaucher, er scheint Judiths Erkundung zu begleiten, lässt sie nicht aus den Augen, als wolle er sie bewachen. An der westlichen Spitze der Insel sieht sie warum. Ein zweiter Eistaucher hockt dort auf einem Nest, öffnet den Schnabel zu einem stummen Schrei und fixiert Judith dabei mit kalten, roten Augen. Sie weicht zurück, nun doch wieder überzeugt, dass Charlotte hier gewesen sein muss. Wenig später findet sie einen Unterschlupf, gerade groß genug, dass eine Person darin sitzen kann, trockene Fichtenzweige dienen als Sichtschutz, eine dunkelgrüne Plastikplane als Dach. Sie kriecht hinein, späht hinüber zum Nest, wo sich der brütende Vogel allmählich beruhigt. Sie versucht sich vorzustellen, wie es hier im Juni gewesen sein muss, im Regen, als Beute blutstoller Mücken.
Zeit vergeht. Der Eistaucher scheint Judith vergessen zu haben, sein Partner kommt an Land, bewegt sich mit torkelnden Schritten zum Nest. So, von nahem, erkennt sie, wie groß die Eistaucher tatsächlich sind. Die Flügelspanne kann bis zu einem Meter betragen, steht in einem von Charlottes Büchern.
Was hat Charlotte hier in der Wildnis gesucht? Wollte sie wirklich Stoff für ihre Doktorarbeit sammeln und wenn ja, wo sind dann ihre Aufzeichnungen? Judith kriecht aus dem Unterschlupf, versucht, sich lautlos zu entfernen, eine Unmöglichkeit. Die roten Blicke verfolgen sie, scheinen sich in ihren Rücken zu bohren. Sie richtet sich auf, läuft schneller, plötzlich von einer Urangst erfüllt.
Äste auf dem Boden, gestorben, vertrocknet, bräunlich verblichen wie Knochen. Judith bleibt stehen. Sieht genauer hin, mit fliegendem Atem und zugleich schon mit dem geschulten Blick der Kriminologin, die Wadenbeine, Becken, Brustkorb, Schädel identifiziert. Ein Mensch liegt vor ihr. Die Überreste eines Menschen. Das, was Insekten, Vögel und wer weiß was noch für Getier davon übrig gelassen haben.
Judith kniet auf dem Boden, Tränen laufen ihr über die Wangen, stille Tränen. Sie weiß nicht, warum. Sie hat Charlottes Lager gefunden. Sie hat ihre Schulkameradin gefunden. Das, was von ihr übrig blieb. Sie hat jeden einzelnen ihrer Funde fotografisch dokumentiert. Ganz vorsichtig streckt Judith die Hand aus und streichelt Charlottes Schädel.
Sie weiß jetzt, dass David nicht wiederkommen wird. Er ist auf der Flucht.
Bevor er ins Krankenhaus fährt, macht Manni noch einen Abstecher zum Autobahnrastplatz Königsforst. Der Parkplatz hat etwas mit dem Verschwinden Jonny Röbels zu tun, und er wird nicht aufgeben, bis er das passende Puzzleteilchen gefunden hat. Die Wirklichkeit ist ein Konstrukt, das aus der Summe der Ansichten über sie besteht. Dieselbe Ehe kann für den einen Glück, für den anderen Gefängnis sein. Ein Rastplatz kann ein Rastplatz oder ein Drogenumschlagplatz sein. Und das, was Mannis Mutter als letzte Chance bezeichnet, stellt sich für Manni in der Regel als weit weniger dringlich heraus, auch wenn Ma das vehement bestreitet.
Neben Mr Snacks Imbisswohnwagen parkt ein Lieferwagen. Zwei Männer laden Waren aus, Manni läuft zu ihnen hinüber und wedelt mit seinem Ausweis.
»Wir haben Papiere, alles korrekt, alles sauber«, sagt Mr Snack.
Bei der ersten Vernehmung hat Manni es versäumt, ihn nach seinen Mitarbeitern zu fragen. Ein Anfängerfehler, unverzeihlich. Manni schiebt seinen Ausweis wieder in die Hosentasche. Beide Männer tragen jetzt einen dümmlichen
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