Unter dem Eis
und warum auch nicht, denkt sie, wir sind schließlich einen langen gemeinsamen Weg gegangen in der letzten Woche. Er muss sich verletzt haben, auf seinem Handrücken kleben Pflaster, halb aufgeweichte Pflaster, an den Rändern glaubt sie Eiter zu erkennen.
Frank ist mit den Kindern und seinen Eltern im Garten.Martina schickt den Polizisten in die Küche, wo sie eben begonnen hatte, die Pellkartoffeln für den Kartoffelsalat klein zu schneiden. Sie geht auf die Terrasse, wo Frank und sein Vater sich am Grill zu schaffen machen.
»Frank«, sagt sie, und sie sieht die Angst in seinen Augen, die Ahnung, dass es nun vorbei ist.
Sie dreht sich um, geht zurück in die Küche. Sie hört die unnatürlich helle Stimme ihrer Schwiegermutter, die die Kleinen ruft. Sie hört Franks Schritte hinter sich, steife, widerwillige Schritte. Wie seltsam es ist, dass sie keinerlei Bedürfnis hat, sich an ihn zu lehnen, dass sie sich einem Todesboten näher fühlt als ihrem Mann.
»Es tut mir leid«, sagt der Polizist Korzilius. »Es tut mir sehr leid …«
Er redet immer weiter, und Martina hört ihn und hört ihn doch nicht, weil er ja nur bestätigt, was sie schon weiß. Ich muss die Mayonnaise in den Kühlschrank stellen, wenn ich gleich zu Jonny fahre, sie verdirbt sonst bei dieser Hitze, denkt sie. Erst Franks Stimme holt sie wieder zurück in die Küche.
»Im Angelweiher nahe der Schutzhütte, sagen Sie? Im Angelweiher haben Sie Jonny gefunden?«
»Ja, warum fragen Sie das?«, erwidert Manfred Korzilius, und Martina erkennt, dass etwas an Franks Tonfall sein Misstrauen erregt. Sie wartet darauf, dass Frank antwortet, etwas vollkommen Plausibles sagt wie: Den Teich haben Sie doch schon durchsucht, deshalb wundere ich mich. Sie sieht ihren Mann an und wartet, aber er schüttelt nur stumm den Kopf und antwortet nicht.
Gestern nach dem Verhör im Präsidium hat er sich bei ihr dafür entschuldigt, dass er ihr nichts von dem Geld gesagt hat, mit dem er Volker aus der Klemme helfen wollte. Tausendmal um Verzeihung gebeten hat er sie und tatsächlich hat sie zu hoffen begonnen, hart ins Gericht gegangen ist sie mit sich, nachts, allein im Garten. Für ihr Misstrauen, für ihren Verrat.
Der Kommissar wartet immer noch auf Franks Antwort, sie kann das in seinen Augen lesen, wie gut sie ihn inzwischen kennt. Aber auch in Franks Augen kann sie lesen, sieht dieAngst darin, Angst, die immer stärker wird, die Angst eines in die Enge getriebenen Tiers. Diese Erkenntnis ist ein Schock, noch ein Schock, sie beißt sich auf die Unterlippe. Es ist nicht zu Ende, denkt sie, ich habe mich getäuscht, es ist überhaupt nicht zu Ende. Frank weiß etwas über diesen Teich, etwas Wichtiges, was er auf keinen Fall preisgeben will. Die 20 000 Euro waren nur die Spitze des Eisbergs.
Das Gewitter kommt im Morgengrauen. Wind peitscht Asche in Judiths Gesicht, das Feuer ist erloschen. Sie rafft ihren Schlafsack zusammen, wirft sich den Rucksack über die Schulter. Es kracht und grollt in den Bäumen, rund um die Insel scheint das Wasser zu kochen, nichts ist mehr von den Sternen zu sehen, die sich darin gespiegelt haben. Der Regen fällt plötzlich, wie eine Wand. Harte schwarze Tropfen aus dem Nichts. Judith reißt das Kanu zu den Felsen in ihrem Rücken, dreht es um und macht es zum Dach, indem sie die Kanuspitze in eine Felsspalte schiebt, kauert sich darunter. Die Natur um sie herum tobt, blitzt und brüllt. Es gibt nichts, was sie dagegen tun kann. Selten hat sie sich so ausgeliefert gefühlt.
Als das Gewitter vorüber ist, lässt Judith das Kanu ins Wasser. Die Lebensmittel sind aufgebraucht, die Hoffnung, dass David zurückkommt, verpufft. Wenn sie noch länger untätig neben Charlottes sterblichen Überresten auf Rettung wartet, wird sie verrückt. Judith sticht das Paddel ins Wasser. Auf einmal muss sie an ihren Vater denken, der vor über 35 Jahren den Mut hatte aufzubrechen und dann in Nepal erfroren ist, wodurch seiner Tochter auf immer die Chance genommen wurde, sich an ihn zu erinnern. Alles, was ihr von ihm geblieben ist, ist ein Foto, aus dem sie ihre eigenen Augen ansehen. Ein Toter mehr, der mit ihr verbunden ist und ihr Leben prägt: ihr Vater, Patrick, nun in gewisser Weise auch noch Charlotte und dann natürlich die Toten aus ihrem Beruf. Es muss einen Sinn für ihre Verbundenheit mit diesen Toten geben. Und darüber hinaus einen Sinn zu leben.
Drüben am Ufer wirkt Charlottes Zelt unversehrt. Gestern hat Judith in den
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