Unter dem Eis
mehr in sich hat und Galle schmeckt, er drischt mit den Fäusten gegen die Wand, bis seine Knöchel blutig sind. Seine Mutter hat Recht gehabt, er kommt zu spät.
Nach einer langen Zeit wäscht er sich schließlich Hände und Gesicht, richtet sich auf, starrt in den Edelstahlspiegel, der sein Gesicht zu einem blassen Zerrbild macht. Blut tropft ins Waschbecken, bahnt sich einen Weg zwischen dreckigen Schlieren. Das ist dein Leben, Mann, da rinnt es dahin. Er kann nicht weinen.
Die Dunkelheit kommt und mit ihr die Nachtgeräusche. Wieder ist jeder Windhauch erloschen. Der See spiegelt das letzte Abendlicht, dann die ersten Sterne und den Widerschein des Feuers, das Judith am Ufer der Insel entfacht hat. Es gibt keine Spuren auf der Insel, die auf ein Gewaltverbrechen hinweisen. Es gibt keine Spuren an den Gebeinen. Doch welche Sicherheit über die Todesursache kann man haben, wenn mit Fleisch und Gewebe eine Vielzahl Verletzungen und Spuren verschwunden sein können?
Eine Frau allein in der Wildnis. Stunde um Stunde. Tag um Tag. Vielleicht wechselt sie manchmal ein paar Worte mit dem Piloten, der sie mit Vorräten versorgt. Wenn sie Lust dazu hat, paddelt sie zu seiner Hütte, sobald sie sein Flugzeug hört. Wenn sie zu spät kommt, ist er schon wieder weg. Was hat sie gemacht, wenn sie Sehnsucht hatte – nach Worten, nach Berührungen, vielleicht auch nur nach dem Klang ihrer eigenen Stimme in einem Gespräch?
Eine Frau sitzt am Feuer und spricht mit sich selbst. Eine Frau allein in der Wildnis. Eine Frau und ein Mann in der Wildnis, nur er weiß, wo sie ist, sie bezahlt ihn für sein Schweigen, für seine Botenflüge, vielleicht fordert sie etwas von ihm, was er ihr nicht geben will, also bringt er sie um. Vielleicht war es so. Vielleicht hat Charlottes Geschichte mit David genauso begonnen wie Judiths.
Judith trinkt einen Schluck Whiskey. We’re messin’ up the world , singt Manfred Mann. Messin’ up the sea, messin’ up you and me. To mess something up: etwas durcheinander bringen, verhunzen, ruinieren, verderben. Ein Leben, eine Liebe, eine Karriere, die Welt. Judith regelt die Lautstärke ihres iPods hoch und singt mit, immer wieder, immer wieder diesen Song. Weil er sie die Einsamkeit vergessen lässt. Weil er sie durchs Leben begleitet hat, seit damals, als sie das Geld für die Langspielplatte zusammengespart hatte und den Song zum ersten Mal hörte, damals, als Charlotte und sie in eine Klasse gingen und Judith nach der Schule vor den Gesetzen ihrer Klassenkameradinnen in die Sicherheit ihres Zimmers geflohen war, in ihre Musik und ihre Träume. Messin’ up you and me.
Wenn David für Charlottes Tod verantwortlich ist – warum hat er Judith dann hierher gebracht? Wenn er nichts damit zu tun hat, warum ist er geflohen?
Eine Frau in der Wildnis. Allein. Verrückt. Verloren in einer inneren Welt, nicht mehr erreichbar. Messing up a life. Hoffnung, die zu Chaos wird. War es so? Ist es das, was Charlotte passiert ist?
Kaltes Mondlicht taucht aus den Baumwipfeln. Judith schaltet den iPod aus, lauscht dem Gesang der Eistaucher,wie eine Totenklage erscheint er ihr nun. Und vielleicht ist es gut so: eine Totenklage, und sie, Judith, hält die Totenwache, weil sie etwas gutzumachen hat. Weil Charlotte ihr einmal vertraute.
Judiths Haut brennt von der Sonne, der Luft und dem Feuer. Sie schwimmt noch einmal, das Wasser ist mittlerweile wärmer als die Luft. Schwarzes Wasser, benetzt von Sternen. Sie hat nicht gewusst, dass es etwas so Schönes gibt. Sie hat nicht gewusst, dass man vom Sternegucken besoffen werden kann.
Sie lässt sich am Feuer trocknen, raucht und trinkt Whiskey, in kleinen Schlucken. Betrachtet die Flammen und die schwimmenden Sterne, bis ihr die Augen zufallen. Sie versucht, nicht ans KK 11 zu denken, an Köln, wo es bald Morgen wird, an die Zeit, die sich nicht anhalten lässt. Im Schlaf kommt David zu ihr zurück und sie schreit ihn an, schreit ihm ihre Fragen ins Gesicht, ihre Enttäuschung, ihre Wut. Sie schreit immer weiter, aber er antwortet nicht.
3 . T EIL
Glut
Sonntag, 31. Juli
Sein Schlaf ist bleiern, ein gnädiges Blackout. Das Fiepen seines Handys reißt Manni zurück in das Haus, in dem er aufgewachsen ist. Fußballurkunden und Fotos von seinen Karatemannschaften hängen noch immer an den hoffnungslos spießigen Tapeten. Ein alter Pirellikalender, den zu besitzen er mit Anfang 20 wahnsinnig cool gefunden hat. Lass doch den Jungen, hat sein Vater gesagt, als
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