Unter dem Eis
klirren lassen und sich warm reden, bis sie schließlich über ihre Sorgen sprechen, in diesem gepressten Tonfall, der signalisiert, wie hart das Leben ist und dass sie es natürlich trotzdem meistern.
»… Tim ist so sensibel, nimmt sich alles so sehr zu Herzen … und jetzt auch noch Jonnys Tod.«
»Schrecklich, einfach schrecklich.«
»… hoffentlich beginnen jetzt nicht wieder seine Probleme in der Schule …«
»Bei Ivonne hat sich das ja seit dem Schulwechsel zum Glück gegeben … aber wie anstrengend das vorher war, ständig dieses Geheule über ihre Mitschüler, die sie angeblich nicht mögen.«
»… na ja, zum Schluss ist das ja wirklich eskaliert.«
»… zum Glück vorbei.«
»Bei Tim auch. Regelrecht bekniet hat er uns, diesen Polizisten nichts zu verraten von den früheren Hänseleien, weil das erledigt ist, sagt er.«
Ivonnes Zimmer ist riesig, viel größer als Tims. Sie hat ein Himmelbett, eine weißlackierte Schminkkommode mit dreigeteiltem Spiegel, eine superteure Stereoanlage und sogar einen eigenen Fernseher mit DVD-Player. Tim blättert durch die CDs. Silbermond, Robbie Williams, Pink – Mädchenkram. Über dem Schreibtisch sind Fotos an ein Magnetbord geheftet. Ivonne, Viktor und Ralle – Arm in Arm. Schnappschüsse von einer Klassenfahrt: die ganze Klasse, Jonny steht hinten rechts und sieht nachdenklich aus. Ivonne mitten in einer Mädchenclique, lauthals lachend, das schönste Mädchen der Schule.
Früher ist das anders gewesen. Früher haben Tim und sie sich öfter besucht und sich alles anvertraut, was sie bewegte.Sie haben zusammengehalten, und Tim hat sich gefreut, als Ivonne auf seine Schule wechselte. Doch das Mädchen, das nach den Sommerferien auf den Schulhof trat, war ein anderes als die Cousine, die er kannte. Cool, taff, schlagfertig, modisch gekleidet. Wie Luft hat sie ihn behandelt, tat so, als hätte es all die vielen Stunden und Geständnisse in ihren und Tims Zimmern niemals gegeben. Da, noch ein Foto, von derselben Klassenfahrt, halb verdeckt von einer Pferdepostkarte. Ivonne und Jonny. Sie im Profil, und er guckt sie an, als sei sie etwas ganz Besonderes, etwas Kostbares, als sei er ihr Freund. Jonny, du Verräter.
Das Gedudel eines Handys holt Tim zurück in die Gegenwart. Ivonne hat ihr Handy vergessen, Tim findet es in der Hosentasche einer Jeans, die neben dem Himmelbett auf dem Boden liegt. Vorsichtig hebt er es hoch. Es dudelt jetzt nicht mehr, das Display verrät, dass der Anruf von der Mobilbox kommt, die eine neue Nachricht meldet. Ivonnes Handy. Tim geht zum Fenster, wo die Erwachsenen inzwischen die zweite Flasche Sekt geöffnet haben. Er schleicht zur Zimmertür, öffnet sie und lauscht. Alles still. Nichts zu hören von einer Ivonne, die frühzeitig zurückkommt, weil sie ihr Handy vermisst. Soll er oder soll er nicht? Seine Finger drücken bereits auf die Handytasten, bevor Tim seine Entscheidung getroffen hat. Mit klopfendem Herzen presst er das Handy ans Ohr.
»Hey, Baby, wo bleibst du?«, hört er Viktors Stimme. »Ich warte auf dich. Und noch mal: Samstagabend vor ’ner Woche, da warn wir zusammen, ja? Sag das, wenn jemand dich fragt. Mein Alter flippt sonst aus, du weißt, wie er Ralle hasst.«
Vik, der große, coole Vik hat Angst vor seinem Vater. Die Erkenntnis ist so überwältigend, dass Tim sich hinsetzen muss. Mobilboxnachrichten. Eingehende SMS, gesendete SMS. Immer tiefer klickt er sich in die Welt seiner Cousine, bis er sich schließlich nicht mehr ganz so machtlos fühlt. Bald lassen sie dich in Ruhe. Vielleicht hat Jonny ja trotz allem Recht, vielleicht gibt es einen Weg. Doch dann findet Tim die Bilder, sieht seine Schmach, hört wieder ihre Stimmen, stellt sich vor, wie Ivonne diese Bilder gesehen hat, was sie gesagt hat, wie sie gelacht hat. Gelacht über Tims Erniedrigung. Wie sie ihn vorhingemustert hat. Wie soll er ihr jemals wieder in die Augen sehen? Er drückt auf »Löschen«, ein lächerlicher Versuch, seine Schmach auf diese Weise ungeschehen zu machen. Heulsuse. Arschkriecher. Rinkerstinker. So ein kleiner Pimmel.
Tim schiebt das Handy zurück in Ivonnes Hosentasche. Wie viele Handys gibt es in der Schule? Wie viele seiner Mitschüler haben diese Bilder schon gesehen? Wie viele werden sie noch sehen? Nichts wird sich jemals ändern für ihn. Jonny hat gelogen, er hatte keine Macht. Und jetzt, wo Tim das endlich begreift, ist es zu spät.
Auf Glück folgt Unglück, auf Leben Tod, und dann beginnt
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