Unter dem Eis
Botschaft transportiert, kann Manni sie nicht entschlüsseln.
»Wo warst du eigentlich letzten Samstag, Viktor?«, fragt er.
»Bei ’nem Kumpel.«
»Nicht im Indianercamp?«
»Nein, Mann.«
»Oder im Königsforst?«
Ein schneller Seitenblick zu seinem Vater. »Nein!«
»Erzähl mir, was ihr gemacht habt, du und dein Kumpel.«
»Wir ham nix gemacht, nur so rumgehangen.«
»Wo? Wie heißt dein Kumpel?«
»Sag es ihm, Viktor«, schaltet sich Petermann senior ein. »Antworte bitte in ganzen Sätzen.«
»Wir warn bei Ralle«, noch ein Seitenblick zu seinem Vater, der die Lippen zusammenpresst, als wolle er sich am Sprechen hindern.
»Ich brauche den vollständigen Namen«, sagt Manni.
»Ralf Neisser.«
»Ein Junge von eurer Schule?«
»Er wohnt in der Nähe.«
»Heißt das ja oder nein?«
»Ralle geht nicht auf die Brecht.«
»Viktor ist natürlich auch mit Jugendlichen vom Gymnasium befreundet«, meldet sich Hagen Petermann zu Wort. »Er hat zum Beispiel eine sehr nette Freundin, Ivonne Rinker, aus seiner Klasse. Du hast sie doch getroffen, am Samstagabend?«
Zum ersten Mal hat Manni keine Schwierigkeiten, den Blick, den Viktor seinem Vater zuwirft, zu verstehen. Er guckt, als wolle er ihn am liebsten knebeln. »Hab ich«, nuschelt er schließlich.
»Ivonne ist die Cousine von Jonnys bestem Freund Tim Rinker, richtig?«, fragt Manni.
Einen Augenblick lang sieht Viktor Manni in die Augen. Misstrauisch, abweisend. Dann starrt er erneut auf den Glascouchtisch und zuckt mit den Schultern.
»Ja, na und?«
Er wird einen anderen Zugang zu Viktor finden müssen, ohne Eltern und Lehrer. Er muss einen Weg in die Welt der Schüler finden, wenn er etwas über Jonny erfahren und diesen Mordfall lösen will. Gelingt ihm das nicht, wird ein Unglück geschehen, noch ein Unglück. Manni weiß nicht, warum er davon auf einmal so überzeugt ist, er weiß nur, dass er sich nicht irrt.
Erdbeerkuchen mit Schlagsahne. Schokoladentorte. Kaffeegeruch. Das Klappern von Geschirr. Die vertrauten Stimmen der Erwachsenen – längst nicht so fröhlich wie sonst, wenn die Familie Rinker zu einer Geburtstagsfeier zusammenkommt, sondern gedämpft. Gedämpft wegen Jonny, seinem Freund Jonny. Dem er vertraut hat, an den er geglaubt hat, der ihn im Stich gelassen hat und jetzt tot ist. Tim starrt auf das Stück Erdbeerkuchen auf seinem Teller, das von Minute zu Minute größer wird, sich aufzublasen scheint wie ein Igelfisch, der sich gegen einen Angreifer rüstet. Nur dass Tim sich nicht wie ein Angreifer fühlt, sondern leer, als sei er tot wie Jonny, dessen Messer, wie ein allerletzter Gruß, immer noch in Tims Bettkasten bei den Seeigeln liegt, weil er zu feige ist, es zu benutzen.
»Du isst ja gar nichts, Timmy.« Seine Tante streicht ihm über den Kopf und klatscht einen Löffel Sahne neben sein Kuchenstück. »Jetzt rutscht es sicher besser.«
Gehorsam sticht Tim in den Kuchen und schiebt sich ein Stück in den Mund, das augenblicklich zu einer süßen Masse aufzuquellen scheint, die ihn zu ersticken droht. Er sehnt sich plötzlich nach Dr. D., der so gern Sahne schleckte und Eis, mit seiner feuchten, rauen Zunge. Er fühlt die Blicke seiner Cousine Ivonne auf sich. Seit Tim und seine Eltern angekommen sind, lässt sie ihn nicht aus den Augen, taxiert ihn, sobald sie sich unbeobachtet fühlt. Schlange, denkt Tim, falsche Schlange. Machst hier einen auf liebe Tochter, spielst Klavierständchen für deinen Vater und bist nett, aber mir kannst du nichts vormachen, ich weiß, wie du wirklich bist.
Endlich ist das Kaffeetrinken vorbei, Ivonne verabschiedet sich mit einem strahlenden Lächeln, um für ein Stündchen einer Freundin bei den Hausaufgaben zu helfen. Sie wirft Tim einen warnenden Blick zu, als sie das sagt. Als ob er vorhätte, sie zu verpfeifen. Als ob das irgendetwas bringen würde, selbst wenn er es täte. Im Zweifelsfall wird immer Ivonne gewinnen. Ihm würden sie sowieso nichts glauben.
Die Erwachsenen öffnen jetzt Sekt und prosten sich zu, Tim kann spüren, wie sie darauf brennen, über Jonny zu sprechen, über Jonny, Ivonne und Tim. Erwachsenengespräche.
»Geh doch in Ivonnes Zimmer und hör eine CD, wenn du dich langweilst, Timmy, sie hat sicher nichts dagegen«, schlägt seine Tante vor.
Die anderen nicken und lächeln. Er kann spüren, wie sehr sie sich wünschen, ihn los zu sein.
Er steht auf, geht zur Toilette, hockt auf dem Klodeckel und hört durch das angelehnte Fenster, wie sie die Gläser
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