Unter dem Eis
Wasserspritzern zu schützen. An ihrem Hals blitzt dezenter Goldschmuck, was vollkommen passend ist. Monika Petermann ist eine typische Vertreterin jener Spezies Frau, die mächtige Männer heiraten, um mit ihnen zu repräsentieren: sonnengegerbt, mager wie eine Bergziege, abgrundtief langweilig perfekt. Petermann kommt mit seinem Sohn im Schlepptau zurück, einem Halbwüchsigen, der sich bewegt, als imitiere er das Gehabe von Möchtegernpromis auf RTL 2 . Er ist größer und älter als Jonny, sein Haar ist von wasserstoffblonden Strähnen durchzogen. Pubertät, denkt Manni. Wie habe ich das gehasst: die Peinlichkeiten, die Heimlichkeiten, das ewige Rangeln um Anerkennung. Und doch war es die aufregendste Zeit der Welt.
»Der Kommissar hat Fragen an dich.« In Hagen Petermanns Stimme liegt jetzt eine Schärfe, die Manni vorher nicht wahrgenommen hat.
»Ich würde gern allein mit Viktor sprechen.«
»Setzen wir uns.« Hagen Petermanns Stimme duldet keinen Widerspruch. Zögernd nimmt Viktor auf einer Sesselkante Platz, jeden Blickkontakt mit Manni und seinem Vater vermeidend.
»Was weißt du über Jonny, Viktor?«, fragt Manni.
»Was soll ich über ihn wissen?«
»Er war in deiner Klasse.«
»Und?«
»Viktor.« Hagen Petermanns Stimme ist ein Messerstich. Auf seiner Stirn hat sich eine steile Falte eingegraben. Er mag seinen Sohn nicht, denkt Manni. Er verachtet ihn. Oder bin ich jetzt schon so durch den Wind, dass ich überall meine eigene Geschichte zu sehen glaube?
»Jonny war nicht in meiner Clique.« Immer noch blickt Viktor zu Boden.
»Sondern?« Manni lehnt sich vor.
»Keine Ahnung, Mann.«
»Tim Rinker.«
Zum ersten Mal sieht Viktor Manni an. Verunsichert? Erschrocken? Wütend? Bevor Manni das entschieden hat, sinkt Viktors Blick wieder in Richtung Teppich.
»Tim Rinker war mit Jonny befreundet«, wiederholt Manni. »Wer noch, Viktor?«
Schulterzucken.
»Warum niemand aus eurer Klasse? Warum nicht du?«
Noch mehr Schulterzucken. Und viel mehr ist aus Viktor nicht rauszuholen, trotz der zunehmend gereizten Ermahnungen seines Erzeugers oder – was wahrscheinlicher ist – gerade wegen dieser Ermahnungen. Hatte Jonny eine Freundin? War er beliebt? Unbeliebt? Noch mehr Schulterzucken, nein, Mann, keine Ahnung, Mann. Nahm Jonny Drogen? Nimmt irgendjemand in der Bertolt-Brecht-Schule Drogen? Mit Sicherheit ist das der Fall, denkt Manni, doch wie soll Viktor das zugeben, solange sein Vater neben ihm sitzt? Wieder blitzt die Erinnerung an Mannis eigene Pubertät auf. Wie er seine Eltern angelogen hat, ihnen verschwieg, wie es ihm ging und was er tat, wie das nach erstaunlich kurzer Zeit zu einer Selbstverständlichkeit wurde.
Kurz nach seinem vierzehnten Geburtstag hat sich seine Welt von der seiner Eltern entfernt, sie sind zu Bewohnern zweier Planeten geworden, die unabhängig voneinander existieren: nebeneinander und doch immer fremd. Und nun ist ein Teil dieses anderen Planeten verglüht, bevor Manni ihn besuchen konnte, ja bevor er entschieden hatte, ob er ihn überhaupt besuchen wollte. Nun sitzt er unverhofft fest in einer Welt, in der Entscheidungen persönliche Konsequenzen haben und zu spät tatsächlich zu spät bedeutet. Natürlich hat er das schon lange gewusst, aber jetzt ist es plötzlich real.
Wer war Jonny wirklich? Immer noch kann Manni diese Frage nicht vollständig beantworten. Aber das muss er, das muss er ganz dringend, wenn er Jonnys Mörder stellen will.
»Frank Stadler hat sich letzten Samstag mit einem Freund getroffen«, sagt er zu Hagen Petermann. »Mit Volker Braun. Kennen Sie ihn?«
»Flüchtig. Er war bis vor einem Jahr bei uns im Club.«
»Warum ist er ausgetreten?«
Jetzt zuckt Petermann senior mit den Schultern, eine unwillkürliche Parodie seines Sohnes, dessen Aufsässigkeit ihm soeben noch missfallen hat.
»Volker hat, glaube ich, ein Haus gekauft und von Grund auf saniert, in Eigenregie, er hatte keine Zeit mehr«, sagt er schließlich.
»Sie kennen Volker Braun also nicht näher, auch wenn er in ihrem Club war? Wie viele Jahre eigentlich?«
»Vier Jahre. Aber wir haben über 50 aktive Mitglieder, man kann nicht mit allen eng befreundet sein.«
»Haben Sie Volker Braun am letzten Samstag gesehen, als sie im Wald spazieren gegangen sind?«
»Ich sagte doch bereits, ich habe niemanden gesehen, den ich kannte.«
Zum ersten Mal hebt Viktor den Kopf und einen Moment lang sehen sich Vater und Sohn in die Augen, doch wenn dieser stumme Blick eine
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