Unter dem Eis
alles wieder von vorn, anders, vielleicht sogar besser, zumindest für jene, die daran glauben können. Aber Glauben hat keinen Platz im Leben einer Kriminalhauptkommissarin, deren Tagesgeschäft sich Leichensachbearbeitung nennt. Judith zündet eine Zigarette an. Noch fünf Zigaretten, dann ist ihr Tabakvorrat zu Ende. Sie liegen vor ihr, fertig gedreht. Fünf Zigaretten. Fünf kleine Ewigkeiten des untätigen Wartens. Auf der Tarotkarte Tod durchtrennt das schwarze Skelett mit der Sense Marionettenfäden, die es an etwas binden, was überholt ist und vergehen muss. Ist Charlottes Tod ein Beginn? Und wenn ja, von was?
Brummen. Tief. Unnatürlich. Ein Flugzeug. So überraschend, dass Judith erst verspätet reagiert. Dann springt sie auf, stößt Holz ins Feuer, rennt auf den Steg, den Blick in den Himmel gerichtet, sieht den silbrigen Leib tief über dem See, winkt und schreit. Das Flugzeug landet, bewegt sich auf sie zu. Zwei Männer sitzen im Cockpit. Nicht David. Fremde Männer. Das Flugzeug dreht bei, der Motor verstummt, die Tür schwingt auf. Einer der Männer springt zu Judith auf den Steg, macht das Flugzeug fest. Noch eine Gestalt wird jetzt im Cockpit sichtbar. Klein und blondlockig. Springt mit einem lässigen Satz auf den Steg.
»Are you okay?«, fragt die Kommissarin Margery Cunningham mit ihrer Barsängerinnenstimme, und nur die steileFalte zwischen ihren Augenbrauen verrät, dass ihr Abstecher in die Wildnis kein Sonntagsausflug ist und dass sie Judiths Alleingang keinesfalls witzig findet. Schon vor Judiths Hilferuf habe sie sich ihre Gedanken gemacht. Seit Tagen stehe Judiths Mietwagen vor David Beckers Haus, von Becker selbst fehle jede Spur, erklärt sie knapp.
»Er hat mich hierher gebracht, dann ist er verschwunden«, sagt Judith, und jetzt, wo sie das ausspricht, fühlt sie nicht mehr nur Wut, sondern auch Schmerz. Aber das muss warten, darum geht es nicht, denn sobald sie ihren Bericht beendet hat, fordert Margery Cunningham über Funk Verstärkung an und macht deutlich, dass sie Judith als Kronzeugin für ihre Ermittlungen in einem ungeklärten Todesfall betrachtet.
»Ich weiß, dass ich hier bleiben müsste, aber ich muss nach Deutschland fliegen, heute Abend noch. Ich werde die Ermittlungen von dort aus unterstützen, wie ich nur kann«, sagt Judith, als sie Charlottes Insel erreichen. »Bitte, Margery.«
Lange sieht es so aus, als wolle die kanadische Kollegin ihr keine Antwort geben. Schweigend folgt sie Judith zu der Stelle, wo Charlottes sterbliche Überreste ruhen. Schweigend geht sie in die Hocke. Erst als sie alles genau in Augenschein genommen hat, sieht sie zu Judith auf, abwägend, ein Erzengel im Karohemd.
»Terence Atkinson hat zugegeben, dass er Becker beauftragte, Charlotte Simonis hierher zu bringen. Sie muss ihm ganz schön zugesetzt haben. Stalking. Seine Ehefrau war verständlicherweise außer sich. Aber er schwört, dass er nichts mehr von Charlotte hörte, seit Becker sie hierher brachte.«
»Er hat sie mal vom Motel abgeholt.«
»Sie waren essen. Danach hat er sie wieder ins Motel gebracht. Dafür gibt es Zeugen.«
Margery steht auf, ohne den Blick von Judith zu wenden. »Wir müssen David Becker finden.«
Einen Augenblick fühlt Judith noch einmal die Wärme in ihrem Körper, als David ihre Hand berührte und sie ansah mit diesem Blick, der so vertraut war und zugleich schon Abschied in sich barg.
»Du musst uns helfen, Becker zu finden«, sagt Margery Cunningham. »Jedes Detail, an das du dich erinnerst, kann wichtig sein.«
Wärme, so viel Wärme. Konturen eines fremden Körpers an ihrem eigenen Körper, für sie geschaffen, erdend, tröstend, Glück verheißend. Der Geruch salziger Haut, der Blick in die Sterne, das Gefühl, die Zeit überwinden zu können, den Lauf der Zeit. Das Gefühl, alles überwinden zu können. Vergiss das nicht.
»Du musst kooperieren«, wiederholt Margery Cunningham.
»Ich weiß«, antwortet Kriminalhauptkommissarin Judith Krieger. Zwei Worte nur. Worte, die bitter schmecken.
Karl-Heinz Müller hat es sich nicht nehmen lassen, die Obduktion zu leiten, das verpasste Bouleturnier scheint ihn nicht mehr zu kümmern. Ungewöhnlich ernst gehen er und die beiden assistierenden Ärzte ihrem Job nach, jetzt, nachdem die Spurensicherer den Jungen endlich freigegeben haben. Große Leichenschau – warum eigentlich Schau?, überlegt Manni. Das ist doch hier kein Varietétheater, wo die Toten tanzen. Er drängt die Erinnerung an seinen
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