Unter dem Eis
zurückzuziehen und frische Luft in seine Lungen zu saugen oder, noch besser, aus dem Fenster in den Park zu springen. Auf dem Nachttisch stehen Blumen – unverkennbar aus dem Garten seiner Mutter – und ein Foto von dem Tag, an dem Manni von der Sitte in Essen in die Kölner Mordkommission wechseln durfte. Manni und seine Mutter links und rechts stehend hinter dem Rollstuhl des Vaters, die Mutter strahlend vor Stolz, Manni selbst ernst, nur der Blick des Vaters ist reglos auf einen Punkt gerichtet, der weit hinter dem Fotografen zu liegen scheint. Manni beugt sich über den Kranken. Die Haut wirkt wächsern, abgesehen von ein paar Bartstoppeln und geplatzten Äderchen auf den Wangen. Die Augen öffnen sich nicht.
Aus dem Auto ruft er seine Mutter an, froh, dass sie nicht mehr zur Salzsäule erstarrt auf dem Krankenhauskorridor hockt, sondern nach Hause gefahren ist, um sich um ihren Garten und die beiden Katzen zu kümmern. Ihre Stimme klingt matt, sie reden Belangloses.
»Lieb von dir, dass du das Einzelzimmer zahlst«, sagt sie zum Abschied. Manni fühlt sich zu müde, ihr zu gestehen, dass das Motiv dafür nicht Liebe ist, sondern ein Versuch, sich freizukaufen.
Um kurz vor 21 Uhr manövriert er seinen GTI in eine Parklücke vor seiner Wohnung, denn im Präsidium sind seit Martina Stadlers Fernsehauftritt keine neuen Hinweise eingegangen. Aber die Fragen bleiben trotzdem. Wo ist Jonny? Ist sein Stiefvater ein Mörder? Was ist mit dem Dackel? In seiner Wohnung streift Manni die Nikes ab und wirft die Tageszeitung und die Werbeprospekte in die Kiste für das Altpapier. Er öffnet die Fenster und atmet die warme, abgasgeschwängerteLuft. Sein Kühlschrank enthält drei Flaschen Cola, eine angebrochene Tüte H-Milch und im Tiefkühlfach zwei Pizzas. Was ist mit Jonny Röbel geschehen? Manni tritt ein paar Mae geris, Yoko geris und einen vollendeten Ushiro mawashi geri gegen den Sandsack. Er muss häufiger ins Karatetraining gehen, sonst wird das nichts mit seinem zweiten Dan. Seine Fäuste wirbeln Zukis. Er muss diesen Jungen finden. Aber jetzt braucht er eine Pause.
Eine Viertelstunde später tritt er frisch geduscht in das sommerliche Klangpotpourri aus Stimmen und Gläserklirren des Maybach-Biergartens. Am Tresen kauft er ein Weizenbier und bahnt sich einen Weg zwischen den Tischen mit gebräunten, aufeinander einredenden Menschen. Immer noch fühlt er sich ruhelos, gleichzeitig ausgebrannt und unter Strom. Seine Schritte knirschen im hellen Kies, ein Geräusch, das er normalerweise mag, jetzt scheint es ihn zu verhöhnen.
Dann sieht er sie. Das blonde Haar, die Silberspange, ein helles Shirt, die Jacke lässig um die Hüften geschlungen. Sie sitzt auf der Mauer mit dem Rücken zu den anderen Gästen. Allein. Neben ihr steht ein leeres Kölschglas. Manni schnappt einer Kellnerin ein Kölsch, das sie gerade einem anderen Gast verkaufen wollte, vom vollgeladenen Tablett und besänftigt ihren Protest mit einem satten Trinkgeld.
»Nachschub. Darf ich?« Er hält Miss Cateye seine Beute hin und deutet auf die Mauer neben sie.
Sie sieht zu ihm auf. Er hält ihr das Kölschglas noch etwas näher vor die Nase. »Das wollte ich dir schon neulich ausgeben, aber dann musste ich leider weg.«
»Ich wollte gerade gehen.«
»Nur ein Kölsch. Die Nacht ist noch jung.«
Auf der Bahntrasse gleitet ein ICE vorbei, die Fenster ein Lichtstreifen über dem Park. Darüber steht der Halbmond im dunklen Blau.
»Erst ein Kölsch. Und dann Paris«, sagt Miss Cateye. »Oder Amsterdam.« Sie nimmt das Glas, prostet ihm zu. »Von mir aus, setz dich, trinken wir ein Kölsch. Aber bitte verschone mich mit einer dieser Du-bist-meine-Traumfrau- Anmachen, die dann in einer schnellen Nummer enden unddem obligatorischen ›Ciao, Baby‹, bevor der Morgen kommt. Davon hatte ich nämlich in letzter Zeit genug.«
»Kein Problem.« Manni setzt sich neben sie und trinkt einen großen Schluck Weizen. Dann noch einen. Nach ein paar Sekunden schaltet sein Hirn wieder auf Betrieb. Was hat sie da gerade gesagt? Sie hat die Nase voll von Anmache. Oder von schnellen Nummern?
Sie sieht ihn an. Ein Lächeln umspielt ihre Mundwinkel, ihre Katzenaugen glitzern.
»Gemein, was? Nimmt dir den ganzen Wind aus den Segeln.«
»Na ja.« Noch ein Schluck Bier. »Ich steh eigentlich eher auf langsame Nummern.« Wirklich toll, Mann, wahnsinnig originell. Die Frau neben ihm scheint zum selben Schluss zu kommen, sie betrachtet ihr Kölsch, als rätsele
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