Unter dem Eis
sie, ob es sich wohl als Wurfgeschoss eigne. Hastig spricht Manni weiter.
»Wenn schon, dann Amsterdam. Wenn du mich fragst.«
»Aha. Und warum?«
Grün, grünblau, blau? Es ist zu dunkel, um die Farbe ihrer Augen zu erkennen. Aber ihre Lippen sind fein geschwungen und die Brüste – verdammt, reiß dich zusammen, wie war die Frage? Richtig, Amsterdam.
»Die Grachten«, sagt Manni. »Die Boote. Jetzt ein Hausboot, in diesem Sommer …«
»Wenn man mit so einem Hausboot an einem Deich langschippert, ist es, als gleite man über eine Wiese und jeden Moment steigt eine Herde Kühe an Bord.« Sie spricht träumerisch, sieht Manni nicht an.
»Klingt schön.«
»Ich hab das mal gemacht.«
Sie prosten sich zu, schweigend, betrachten die Lichtspuren der Züge, die vielleicht nach Amsterdam fahren, und die blinkende Neonshow an der Glasfassade des Kölnturms im Mediapark. Ein Boot, eine frische Brise und auf Deck Miss Cateye im Bikini, oder noch besser ohne. Zum ersten Mal seit Tagen lässt Mannis Spannung nach. Er trinkt sein Weizen aus und winkt nach einer Kellnerin.
»Für mich nicht mehr, ich muss los.« Entschlossen schwingtMiss Cateye die langen Beine über die Mauer und steht auf. »Tschö, Fremder.«
Manni will widersprechen, sie zum Bleiben überreden oder wenigstens nach ihrem Namen fragen, aber bevor er etwas sagen kann, ist sie im Gedränge des Biergartenbetriebs verschwunden.
Das Land ist groß. Groß und leer. Minute um Minute gleitet tief unten Grün vorbei, nur unterbrochen vom Glitzern gewaltiger Seen. Ich bin verrückt, denkt Judith. Verrückt, vermessen, vollkommen übergeschnappt, wenn ich wirklich glaube, dass ich in dieser gigantischen Leere dort unten eine Frau finden kann, die nicht gefunden werden will und die ich noch dazu kaum kenne. Sie wendet den Kopf vom Fenster des Flugzeugs und bestellt bei einem der dienstbeflissenen Stewards Kaffee. Das Flugzeug ist mit Verspätung gestartet, in Köln ist es jetzt Abend, hier, zwei Stunden vor der Landung in Toronto, ist es Nachmittag. Beides erscheint irreal. Es ist, als sei sie mit dem Beginn ihrer Reise aus der Zeit gefallen und habe jeden Bezug zu ihrer inneren biologischen Uhr verloren.
Fünf Stunden später lässt Judith sich vom Navigationssystem eines feuerroten Mietwagens aus Toronto leiten. Im Rückspiegel glühen die gläsernen Hochhäuser von Kanadas bevölkerungsreichster Stadt im Abendlicht, metallisch glitzernde Bauklötze eines Riesen. Hoch über ihnen sticht die Spitze des CN-Towers in den Himmel. Professor Terence Atkinsons Sekretärin an der University of Toronto hat herzlich gelacht, als Judith fragte, wo eine Vogelforscherin wohl hinfährt, um Eistaucher zu beobachten.
»Loons! Those birds are everywhere.« Immerhin hat die Sekretärin verraten, dass Charlotte Professor Atkinson im Mai mehrfach im Institut besucht hat. Eine Kollegin aus Cologne, Germany, richtig? Selbstverständlich habe sich Professor Atkinson über den Besuch gefreut. Und dann sei die Deutsche nicht mehr gekommen, die Semesterferien haben begonnen und Dr. Atkinson ist, wie jedes Jahr, mit Frau, Kindern undBoot in sein Sommerhaus an der Georgian Bay gereist. Cozy Harbour heißt das Kaff, diese Information hatte Judith der Sekretärin entlockt. Ein winziger Fliegenschiss in zerklüftetem Grün, unmittelbar neben einer großen, hellblauen Fläche, so ist es auf der Landkarte dargestellt, die Judith an einer Tankstelle gekauft hat.
Sie fährt nach Norden, wie es das PKW-Navigations-system vorschreibt, das sie mit den Koordinaten von Cozy Harbour gefüttert hat. Die letzten Ausläufer Torontos liegen hinter ihr, Felder, Wälder, sanft geschwungene Wiesen bestimmen nun das Panorama. Nichts, was aufhält oder ablenkt, nur dieses gigantische weite Land und ab und zu eine Farm. Die Nacht kündigt sich an, mit weichem Licht. Durch das halboffene Seitenfenster strömt der strenge Geruch eines verendeten Stinktiers. Bei einem Fastfoodlokal, das Tim Horton heißt und statt Hamburger Kaffee und Gebäck verkauft, hält Judith an. Sie isst ein Sandwich und kauft einen großen Becher Kaffee to go, auch wenn sich ihr Magen bei der Aussicht auf eine weitere Koffeindosis zusammenzieht. Zum Rauchen muss sie auf den Parkplatz gehen. Die Dunkelheit kommt jetzt schnell, das Fahren wird anstrengender, die Lichter der entgegenkommenden Autos blenden. Der einzige Sender, der sich nicht nach wenigen Minuten in einem Rauschen verliert, spielt Countrymusik. Trotzdem quält Judith
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