Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unter dem Eis

Unter dem Eis

Titel: Unter dem Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
Vom Netzwerk:
sich weiter, bis die Scheinwerfer des Gegenverkehrs zu verschwimmen drohen. Die Leuchtreklame eines Motels führt sie in die Schwärze neben dem Highway.
    Das Zimmer riecht nach Desinfektionsmittel wie Charlottes Haus in Köln. Die Einrichtung ist aufs Nötigste beschränkt und in deprimierenden Grau- und Gelbtönen gehalten, die an Zigarettenasche und Nikotin erinnern, auch wenn in dem Zimmer Rauchverbot herrscht. Über dem Kopfende hängt in einem schiefen Rahmen hinter halbblindem Glas der Kupferstich eines Eistauchers, wie um Judith zu verhöhnen. Sie duscht, wickelt sich in ein Badelaken und setzt sich mit einer Flasche Bier aus der Minibar auf die Holzveranda. Die Neonwerbung des Motels flackert, hin und wieder klingt vom Trans-Canadian-Highway Motorengeräusch herüber, dreiAutos stehen auf dem Parkplatz vor dem Flachbau, davon abgesehen wirkt das Szenario irreal. Als sei sie unversehens in eines dieser Hopper-Gemälde geraten, in denen Architektur und Landschaft so viel mehr Raum einnehmen als Menschen.
    Judith öffnet die Bierflasche und dreht sich eine Zigarette. Vielleicht hat Charlotte genau in diesem Motel übernachtet, die Wahrscheinlichkeit ist ungefähr so groß wie die eines Lottohauptgewinns. Die Luft auf Judiths nackter Haut schmeichelt wie ein Liebhaber. Sie raucht und hört der Dunkelheit zu, bis sie so müde ist, dass ihr der Desinfektionsgeruch des Motelzimmers nichts mehr ausmacht. Ihr letzter Gedanke ist die Tarotkarte Tod und warum ein schwarzes Skelett mit einer Sense etwas Positives bedeuten soll. Dann schläft sie ein.

Mittwoch, 27. Juli
    Fliegender Atem, Schweiß auf der Haut, Herzschlag in harten Stößen. Bilder, die sich nicht vertreiben lassen. Ein blonder Junge, der lacht und einen struppigen Dackel umarmt. Eine verzweifelte junge Mutter, die in den Abendnachrichten um das Leben ihres Sohnes fleht. Das Summen hungriger Fliegen. Verkrustetes Blut, dort, wo ein Schlappohr sitzen sollte. Der Stempel scharfer Hundezähne in einer pelzigen Kehle. Mit brennenden, weit geöffneten Augen liegt Elisabeth in ihrem Bett, ein Opfer der Bilder, während die Nacht in quälend winzigen Schritten vorwärts schleicht. Der einzige Trost ist das Raspeln von Barabbas’ Atem im Flur vor der Schlafzimmertür – wie könnte sie die Nacht ohne dieses Geräusch überstehen? Jemand hat dem Dackel des vermissten Jungen Jonny ein Ohr abgeschnitten, hat die Nachrichtensprecherin gesagt.
    Ich muss zur Polizei gehen, denkt Elisabeth. Ich muss sagen, dass Barabbas Jonnys Dackel totgebissen hat und dass ich ihn beerdigt habe. Wie Leid mir das tut. Vielleicht nehmen sie mir Barabbas ja gar nicht weg oder lassen ihn zumindest leben. Ich mache mich schuldig, wenn ich schweige, ich versündige mich. Das Leben eines Kindes ist wichtiger als ein Hund.
    Sie streckt die Hand aus und schaltet die Nachttischlampe an. Bald werden die Amseln zu streiten beginnen und ein Streifen Licht wird im Osten am Himmel stehen. Doch auch wenn Elisabeth den Morgen verzweifelt herbeisehnt, weiß sie, dass er ihr heute keine Erlösung bringen wird. Sie muss zurPolizei gehen. Mühsam setzt sie sich auf und wartet, bis der Schwindel nachlässt und die Schmerzen in ihrem Rücken so weit abebben, dass sie aufstehen kann. Barabbas tappt über die Holzdielen und begrüßt sie, Seite an Seite gehen sie ins Bad, wo Elisabeth ihren Morgenmantel überstreift, dann die steile Treppe hinunter in die Küche.
    Es ist noch zu früh, um zu frühstücken, und ohnehin hat sie keinen Appetit. Du musst trinken, Mutter, sagt Carmens Stimme. Gehorsam füllt Elisabeth ein Glas mit Milch und vergewissert sich, dass auch Barabbas’ Napf gefüllt ist. Der vermisste Jonny und sein Dackel Dr. D. schauen sie aus der Tageszeitung an, die noch aufgeschlagen auf dem Küchentisch liegt. Sie kann nicht nach Köln fahren, das ist zu weit und wo soll sie Barabbas lassen? Aber im Nachbarort Neurath gibt es ebenfalls eine Polizeistation. Guten Tag, ich möchte eine Aussage machen. Der vermisste Dackel, dem das Ohr fehlt. Ich habe ihn in Frimmersdorf begraben, hört Elisabeth sich sagen. Sie könnte verschweigen, dass Barabbas den Dackel totgebissen hat. Aber das ist Unsinn, denn sicher wird die Polizei das dennoch herausfinden, und wenn sie erst in ihrem Haus sind und Fragen stellen, kann sie nicht lügen.
    Elisabeth starrt auf den Telefonapparat. Vielleicht genügt ein Anruf. Ein Anruf, der die Polizei den Dackel finden lässt – nicht aber sie und Barabbas. Aber kann

Weitere Kostenlose Bücher