Unter dem Eis
die Polizei nicht herausfinden, wer anruft und von wo? Kein Anruf also, aber vielleicht ein Brief. Ein anonymer Brief. Die stechenden Schmerzen in ihren Schultern ignorierend, hievt Elisabeth im Wohnzimmer Heinrichs alte Triumph-Adler auf den Esszimmertisch und spannt einen Bogen Papier ein.
Der einohrige Dackel ist tot. Suchen Sie ihn im Wald am Kraftwerk Frimmersdorf.
Wird die Polizei diesen Hinweis ernst nehmen? Werden sie das Grab finden? Es funktioniert nicht. Sie zieht das Papier aus der Maschine, zerreißt es in kleine Fetzen.
Der Garten liegt jetzt im Dämmerlicht. Elisabeth schlurft zurück in die Küche und setzt Kaffeewasser auf, macht sicheinen Toast und öffnet für Barabbas eine Büchse. Was soll sie tun? Wie kann sie die Polizei informieren, ohne Barabbas zu verraten?
Sie nimmt die Kaffeetasse in die Hand und tritt barfuß nach draußen, ins taufeuchte Gras. Fünf Uhr, Stille, noch hält der Tag den Atem an. Nur der Klang der Glocken von St. Martin schwebt heran und eine Amsel ruft im Kirschbaum. Langsam geht Elisabeth durch ihren Garten. Mein Leben, denkt sie. Mein Haus. Mein Hund. Es wird zu Ende gehen, muss zu Ende gehen. Bald. Aber noch nicht jetzt. Ich bin noch nicht bereit, das alles zu verlassen. Ich kann Barabbas nicht verraten.
Bei den Strauchrosen hält Elisabeth an. So viel Schönheit, so vergänglich. Sie schneidet welke Blüten ab. Atmet den feinen Duft der taubenetzten Knospen. Vielleicht gibt es noch einen dritten Weg. Einen Weg, der ihr Kraft abverlangen wird, viel Kraft, der aber, wenn sie diese Kraft aufbringt, gelingen kann. Je länger Elisabeth nachdenkt, desto sicherer ist sie, dass sie eine Lösung gefunden hat. Nur vorsichtig muss sie sein. Sie wirft die Rosenschere in den Korb und eilt zurück zum Haus, so schnell ihr Rücken es erlaubt.
Auf einmal sind sie da. Schatten erst, Bewegungen hinter den Büschen an seinem Schleichweg, die den Blick auf Schulhof und Schulgebäude verstellen. Tim fühlt sein Herz in harten Schlägen, sein Mund wird ganz trocken, er beginnt zu schwitzen. Zurück zum Fahrradhof, denkt er. Sofort. Er dreht sich um. Keine Chance. Lukas steht dort am Stahlgitterzaun, etwa zwei Meter von Tim entfernt. Sagt nichts, verschränkt nur die Arme vor der Brust und grinst. Etwas knistert hinter Tims Rücken, hastig wendet er den Kopf. Viktor tritt hinter einem Strauch hervor auf den Trampelpfad, dicht gefolgt von seinem Freund Ralle. Und dann erscheinen auf einmal auch Daniel und Boris aus Tims Klasse zwischen den Büschen.
Einfach so tun, als wär nichts, manchmal hat das schon funktioniert. Sich klein machen, auf den Boden gucken, nichtshören, nichts sehen, nichts fühlen, stur den eigenen Weg gehen und hoffen, dass er irgendwann bald das Klassenzimmer erreicht, dass ein Lehrer auftaucht oder dass sie aus irgendeinem anderen Grund von ihm ablassen. Panisch sieht Tim sich um. Weiter geradeaus geht nicht, gegen Viktor und Ralle kommt er nicht an, auch Daniel und Boris sehen gefährlich aus. Also zurück, an Lukas vorbei, auch wenn der ihm neulich dermaßen den Arm verdreht hat, dass Tim nur noch Sterne sah. Aber vielleicht, wenn Tim schnell ist und sich sehr klein macht, belässt Lukas es bei einem Tritt, wie gestern auf dem Fahrrad. Und dann auf den Schulhof und hoffen, dass da irgendjemand ist, hinter dem er sich verstecken kann.
Tim geht auf Lukas zu. Ein Fehler. Augenblicklich rascheln hinter seinem Rücken Schritte. Tim erstarrt, mit rasendem Herzschlag. Lukas schüttelt ganz leicht den Kopf und stellt sich noch breitbeiniger auf den Pfad.
»Schön hier bleiben, Stinker.«
Schritt für Schritt rücken sie an ihn ran. Eine schweigende, selbstsichere Einheit, von allen Seiten, immer näher, viel zu nah, unerträglich nah. Das Blut rauscht in Tims Ohren, wie aus einer anderen Welt erklingt der Schulgong.
»Lasst mich, die Pause ist rum, ich muss zum Unterricht.« Tims Stimme versagt. Er presst sich an den Stahlgitterzaun, die harte Ecke eines Schulbuchs bohrt sich durch den Eastpak-Rucksack in seinen Rücken, keine Chance zur Flucht, er ist ihnen in die Falle gegangen, was wollen sie von ihm, was soll er tun?
Sie stehen jetzt so nah um ihn herum, dass er nichts anderes mehr sehen kann als ihre harten Gesichter, und immer noch sagen sie nichts.
Bald lassen sie dich in Ruhe. Jonnys Versprechen war ein falsches Versprechen, eine Lüge. Sie werden Tim niemals in Ruhe lassen, weil er ein Versager ist. Ein Looser. Ein peinlicher Streber. Jemand, über den
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