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Unter dem Eis

Unter dem Eis

Titel: Unter dem Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Möwen um die Reste eines Hamburgers streiten. Fischerboote, teuer wirkende Jachten und ein Wasserflugzeug dümpeln an den Anlegern des Hafens. Ein Mann in Jeans balanciert auf einer der Kufen des Flugzeugs, den Kopf im Inneren des Cockpits. Judith parkt und balanciert über silbergewaschenes Holz auf ihn zu.
    »Hi, I’m looking for Terence Atkinson.«
    Der Mann springt neben Judith auf den Steg, ohne erkennbare Anstrengung. »Deutsch?«
    Erstaunt sieht sie ihn an.
    »Sorry, I just thought – your accent.« Er lächelt.
    »Ich komme tatsächlich aus Deutschland.«
    »Meine alte Heimat. David Becker, Trips to the Wilderness. Willkommen in Cozy Harbour.«
    Seine Hand ist warm. Ein bisschen rau. Sie umschließt Judiths Hand, nicht zu fest, nicht zu lasch, sondern genau richtig. So sollte ein Händedruck sein, denkt Judith, oder doch lieber nicht, denn etwas scheint von der Hand ihres Gegenübers auszuströmen. Eine Art Kraftfeld. Ein Brennen, wie sie es von ihren Tarotlegungen kennt.
    Sie entzieht David Becker ihre Hand, er lässt es widerstandslos geschehen. Ein amüsiertes, vielleicht auch verblüfftes Lächeln tanzt in seinen Augen und noch etwas anderes, Dunkleres. Das Leben hat Linien in sein Gesicht gegraben, sein Haar sieht aus, als habe zu viel Sonne einen Teil der hellbraunen Farbe weggebleicht. Judith fühlt das absurde Bedürfnis, das Gesicht dieses Mannes zu streicheln, ihn zu berühren, seine Hände zu spüren, seine Umarmung, noch einmal dieses Brennen. Himmel, kitschiger geht es nicht, reiß dich zusammen, Judith, du weißt nichts von diesem Mann, in einem dieser Holzhäuser mit dem splitternden Anstrich könnten seine Frau und fünf Kinder sitzen, er könnte ein Verbrecher sein, er …
    »Old Marthas Cottage«, sagt David Becker und deutet ins Blau. »Das ist sein Ferienhaus. Liegt etwa eine Meile außerhalb von Cozy Harbour, du musst, Pardon, Sie müssen einfach aus dem Ort raus weiter auf der Piste fahren. Der dritte Weg links ab führt runter zu der Bucht, an der Marthas Cottage liegt.«
    »›Du‹ ist schon okay.« Kitschig oder nicht, Judiths Körper signalisiert mit beinahe schmerzhafter Intensität, dass sie diesem Fremden nah sein möchte. Dass es Glück bedeuten würde, Geborgenheit, wenn auch nur für ein paar Stunden oder eine Nacht.
    »Moment!« David Becker hangelt sich ins Cockpit des Flugzeugs, verschwindet im Inneren, springt wenig später zurück auf den Steg. Das letzte Mal mit Martin, wie lange ist das her? Die letzte Umarmung, der letzte Sex. Früher erschien es leicht, einen Fremden zu umarmen. In den letzten Jahren hat sie diese Leichtigkeit verloren. Warum kommt jetzt die Sehnsucht zurück?
    »Hier, unser Prospekt. Falls du einen Guide brauchst. Meine Telefonnummer steht hinten drauf.«
    »Danke.«
    »Gerne.«
    »Ich muss dann.«
    »Ja.«
    Sie läuft zurück über die verwitterten Bohlen, erstaunt, dass ihr Körper ihr gehorcht. Sieht er ihr nach? Sie dreht sich nicht um, will es nicht wissen, weil diese Unsicherheit plötzlich erträglicher scheint als der Blick auf einen leeren Steg oder David Beckers Rücken. Seine Stimme holt sie ein, als sie den Mietwagen erreicht.
    »Wie heißt du?«
    Er steht noch genau so da, wie sie ihn vor wenigen Sekunden verlassen hat.
    »Judith.«
    Er nickt und hebt die Hand. Sie winkt zurück, startet den Wagen und lächelt noch immer, als Cozy Harbour schon aus dem Autorückspiegel verschwunden ist und sie in die holprige Abfahrt zu Terence Atkinsons Sommerhaus biegt.

    Warten. Warten, dass der Tag vorübergeht, die Hitze, das Licht. Warten, dass die letzten Angler am Fluss zusammenpacken und sich in ihre Häuser zurückziehen, vor ihre Fernseher und dann endlich in ihre Betten. Reglos sitzt Elisabeth in ihrer Küche. Wird ihre Kraft reichen, ihren Plan zu verwirklichen? Was wird mit Barabbas geschehen, wenn sie einen Fehler macht? Die Zeitung liegt aufgeschlagen vor ihr, der Junge und sein Dackel sehen sie an. Elisabeth schließt die Augen, beschwört noch einmal den Sonntagmorgen herauf. Sie ist weit hinausgegangen, so weit wie lange nicht mehr. Sie hat Barabbas laufen lassen, als Frimmersdorf hinter ihnen lag. Der Schäferhund ist in das Wäldchen gerannt, sie ist ihm gefolgt. Dann hat sie sein Knurren gehört.
    War es so? Nein. So war es nicht. Noch etwas war da. Ein Geräusch. Jemand war da. Der Junge aus der Zeitung? Nein, nicht der Junge. Jemand anders. Wer? Sosehr sie sich auch bemüht, sie erinnert sich nicht.
    Als der Tag sich dem

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