Unter dem Eis
man lacht. Jemand, den man quälen darf, weil er das verdient hat. Schlecht in Sport, zu ängstlich, zu beliebt bei den Lehrern, und wenn er was sagt, verstehen ihn seine Mitschüler nicht, und er selbst versteht ihre Witze und Anspielungen auch nicht. Nur Jonny hat ihnverstanden, mit Jonny konnte er reden, mit Jonny hat Tim sich nicht mehr wie ein Zombie gefühlt, sondern wie ein ganz normaler Junge, den man mögen kann.
»Lasst mich in Ruhe.« Seine Stimme ist ein Quieken, nichts liegt darin von dem ruhigen, selbstbewussten Verhalten, das er mit dem bärtigen Mann von der Beratungsstelle geübt hat, zu dem ihn seine Mutter geschleppt hat, damals, als Tim, wenn er mittags aus der Schule heimkam, nicht aufhören konnte zu heulen.
»Warum regt der kleine Stinker sich so auf, wir tun ihm doch gar nichts.« Lukas’ Stimme klingt leise, beinahe freundlich. »Mag er uns etwa nicht?«
»Er hat ein schlechtes Gewissen«, sagt Viktor.
Nun reden sie alle durcheinander. »Was hat er denn nun schon wieder gemacht?« – »Hat er wieder gepetzt?« – »Etwa bei den Bullen?« – »Guck mal, gleich heult er, der kleine Schleimer, macht sich gleich in die Hosen.«
Viktor packt Tim unter dem Kinn, gräbt seine Finger in Tims Hals. Augenblicklich verstummen die anderen. Viel schlimmer als die Berührung ist ihr Hass. Abrupt lässt Viktor Tim wieder los und wischt die Hand an seiner Jeans ab, als müsse er sie säubern.
»Unser kleiner Rinkerstinker ist ein Spanner!«, sagt er beinahe traurig. »Sag, was du gestern am Baggersee mit dem Fernglas gemacht hast, du kleiner geiler Wichser.«
»Ich bin kein Wichser!«
»Ach nein? Lukas hat dich ganz genau gesehen. Hast den Mädels auf die Möpse geglotzt. Vom Wichsen kriegt man gelbe Finger.«
Tim schaut auf seine Hände. »Ich hab nicht gewichst.«
Die Jungs lachen. »Jetzt guckt er nach, boah, ist der blöd, der glaubt das auch noch!« – »Rinker ist ein Wichser!« – »Wenn er sein Ding überhaupt findet.« – »Komm, Stinker, zeig uns, was du hast.« – »Los, runter mit der Hose!«
Wie ein Mann rücken sie noch etwas dichter an Tim heran.
»Lasst mich«, sein Versuch, zu schreien, scheitert jämmerlich. Sie haben ihn in der Hand, sie können alles mit ihm tun,und er hat es nicht anders verdient, weil er so blöd war, ihnen in die Falle zu gehen.
Sie halten ihn fest, sie reißen ihm die Shorts runter, die Unterhose, eine Hand packt seine Eier und drückt, der Schmerz jagt Tim die Tränen in die Augen.
»Heul doch, du Wichser!« Sie lachen, fingern an ihm rum, Tim schließt die Augen, hört auf, sich zu wehren, macht sich ganz schlaff, ein Beutetier, das sich aufgegeben hat. »Schnell, das Handy, mach ein Foto!« – »Nein, ein Video.« – »So ein kleiner Pimmel, kein Wunder, dass unser Timmy spannen muss.« – »Wehe, du spannst noch mal, und wehe, du petzt, Stinker, dann kannst du was erleben.«
Und dann ist es vorbei. So plötzlich, wie sie gekommen sind, verschwinden sie, aber aus irgendeinem Grund kann Tim trotzdem nicht die Augen öffnen und die Hosen hochziehen. Wie festgenagelt presst er sich immer weiter an den Zaun. Ich bin nicht da, einfach nicht da, das ist gerade nicht passiert ist das Einzige, was er denkt.
Weit entfernt, eine Ewigkeit später, kündigt der Schulgong das Ende der sechsten Stunde an. Andere Schüler könnten hierher kommen oder ein Lehrer, sie könnten ihn so sehen, vor allem dieser Gedanke löst Tim schließlich aus seiner Erstarrung. Die Halle, denkt er, Jonnys geheimes Versteck, da bin ich sicher. Schwerfällig stolpert Tim am Zaun entlang zum Fahrradhof, wo er in einem anderen Leben sein Mountainbike abgestellt hat.
Träge türkisfarbene Wellen schwappen auf den Sand. Die Georgian Bay, dieser hellblaue Fleck auf der Straßenkarte, ist auch in Wirklichkeit riesig. Ein Meer, denkt Judith. Oder eine Fata Morgana. Sie geht in die Hocke, taucht die Hand ins Wasser, leckt daran. Kein Salz, tatsächlich ein Süßwassersee, der sich bis zum Horizont erstreckt. Es ist warm, sie ist allein, in Köln ist es schon Nachmittag, aber hier ist der Tag noch neu, der Himmel wolkenlos, das Wasser genau angenehm erfrischend, dennoch steigt sie wieder in ihr Auto. Die OrtschaftCozy Harbour, die sie nach etwa drei Kilometern Schotterpiste erreicht, ist weit weniger spektakulär als der See. Ein paar bunte Holzhäuser, ein Supermarkt mit Tankstelle, eine Rotkreuzstation und eine Gastwirtschaft an einer Uferpromenade, auf der ein paar
Weitere Kostenlose Bücher